Pandoras Boxen


Der deutsche Beitrag zur Architekturbiennale 2023 gibt Venedig etwas zurück. Aus den geretteten Materialien der vorjährigen Kunstbiennale entstehen Interventionen und Reparaturen für die Stadt und ihre Menschen. Die Werkstatt im Deutschen Pavillon steht Kollaborationen lokaler Initiativen mit wechselnden Gästen offen. Den Anfang machte das Münchner Bellevue di Monaco, sie bauten dem Kulturzentrum Pandora eine Bar. Grisi Ganzer war mittendrin. In seinem persönlichen Erlebnisbericht schildert er Eindrücke und Erfahrungen.

Mitte September 2022 bekamen wir in München Besuch vom frischgebackenen Kurator*innenteam des Deutschen Pavillons auf der 18. Achitekturbiennale 2023. Eine muntere Truppe aus Berlin sass bei uns aufgeregten Gastgeber*innen im Café des Bellevue di Monaco. Die Gemeinschaft aus Macher*innen der Zeitschrift Arch+ und den Architekten Summacumfemmer und Büro Juliane Greb hatte beim Bundesbauministerium, dem Hausherrn des Deutschen Pavillons, mit ihrem Konzept den Zuschlag bekommen, Deutschland auf der 18. Architekturbiennale zu vertreten.

Seinen Beitrag für Venedig stellte das Team unter das Motto «Open for Maintenance - Wegen Umbau geöffnet». Unter dem übergeordneten Thema der Nachhaltigkeit sollten Pflege, Reparatur und Instandhaltung in den Fokus genommen werden. Zu diesen Themen wurden Organisationen aus Deutschland sowie lokale Initiativen in den Pavillon eingeladen. Eine der eingeladenen Organisationen waren wir. Das Bellevue di Monaco wurde – zusammen mit den Architekten seiner Sanierung, nämlich dem Münchner Büro Hirner & Riehl – als Beispiel für nachhaltiges und bewahrendes Bauen ausgewählt. Für die Kurator*innen interessant waren auch die mit unserem Projekt verbundenen sozialen Auswirkungen: mehr gesellschaftliche Teilhabe und weniger Verdrängung. Durch seine schiere Existenz mitten im Herzen Münchens wirkt das Bellevue di Monaco von Anfang an gegen die Unsichtbarmachung der Geflüchteten in der Stadtgesellschaft, die durch die Lage der meisten Unterkünfte in der äussersten Peripherie hervorgerufen wird.

Bellevue di Monaco

Das Bellevue di Monaco ist ein Sozialprojekt in der Münchner Innenstadt, ein Wohn- und Kulturzentrum für geflüchtete und nichtgeflüchtete Münchner*innen. Es hat eine besondere Entstehungsgeschichte. Es ist nicht durch einen Beschluss der Stadt oder eines grossen Sozialhilfeträgers entstanden, sondern aus der Mitte der Bewohnerschaft des Stadtviertels heraus, quasi als Ergebnis einer Bürger*inneninitiative. Das Thema «Flucht und Migration» holen wir von den Stadträndern, den Erstaufnahmelagern und Unterkünften in die Mitte der Stadtgesellschaft. Ich selbst hatte das Vergnügen, zusammen mit einigen anderen Engagierten von Anfang an dabei zu sein. Von jenem Anfang, als wir 2012 eigentlich nur gegen die drohende Bebauung eines Bolzplatzes demonstrierten, die Stadt mit einer spassigen «Gorilla/Guerilla»- Wohnungsrenovierung auf Leerstände aufmerksam machten und noch gar nicht daran dachten, selbst etwas mit den bedrohten Häusern in der Münchner Müllerstrasse anzufangen. Über den nächsten Anfang, als wir 2015 eine Sozialgenossenschaft gründeten und uns um den Pachtvertrag für die Häuser bei der Stadt bewarben. Bis zu jenem Anfang im Jahr 2018, als die ersten Geflüchteten einzogen, wir ein regelmässiges Kulturprogramm präsentierten – und das Ganze vom Oberbürgermeister Münchens ganz offiziell und feierlich eröffnet wurde

Mit publikumswirksamen Aktionen, aber auch Energiegutachten und Stellungnahmen von Architekt*innen, Statiker*innen und Denkmalschützer*innen setzten wir uns (unter anderem) für den Erhalt des städtischen Anwesens Müllerstrasse 2-6 ein und zeigten, dass die Häuser nicht abrissreif sind, sondern mit einfachen Mitteln wieder in einen guten bewohnbaren Zustand gebracht werden können. Wir wollten ein Umdenken bei der Stadt bewirken, wie mit Gemeinschaftseigentum umzugehen sei. Von Anfang an haben wir uns aber auch gefragt, welche konkrete Nutzung für dieses städtische Ensemble sinnvoll wäre, in dieser zentralen Lage, in einem derart von Gentrifizierung gepeinigten Viertel. Heute ist das Bellevue Wohnort für über 40 Personen, ein Anlaufpunkt für Geflüchtete, um Unterstützung zu bekommen für das Erlernen der Sprache oder eine Berufsausbildung. Ein Ort für Fortbildungen und Workshops von Rechtshilfe und Radreparatur. Anlaufpunkt für Konzerte, Lesungen, Theater und Debatten aber auch für entspannte Momente mit Getränken und internationalen Essen in unserem Café oder gemeinsames Sporteln auf dem spektakulären Sportplatz auf dem Dach einer der sanierten Bauten. Die Betreiberin des Bellevue, die eingetragene Sozialgenossenschaft hat inzwischen über 750 Mitglieder, geführt wird sie von drei Vorständ*innen und einem mittlerweile fast 25-köpfigen Team, bestehend aus Vollzeit- und Teilzeitkräften und Praktikant*innen. Ein neunköpfiger Aufsichtsrat, sowie hunderte weitere Ehrenamtliche leisten ihren unverzichtbaren Beitrag.

Erste Idee

Nachdem das Bellevue di Monaco bereits für die Biennale 2016 seine damals noch unrenovierten Räume für die erste nationale Pressekonferenz des deutschen Beitrags «Making Heimat» bereitstellen durfte, sollte unser Part diesmal ein aktiverer sein. Die Kurator*innen wünschten sich einen Basketballkorb als benutzbares Ausstellungsobjekt, da zu diesem Zeitpunkt einer der Räume im Deutschen Pavillon noch als «Spielzimmer» gedacht war, in dem die Besucher*innen selbst aktiv werden sollten. Symbolhaft sollte der Basketballkorb für die Entstehungsgeschichte des Bellevue stehen, als ikonischer Gegenstand der uns vom Anfang – den Bürger*innenprotesten zum Erhalt eines öffentlichen Sportplatzes – bis zur Krönung der Sanierung – dem fertigen Dachsportplatz – begleitet hatte.

Den gesamten Herbst 2022 über und weiter bis Weihnachten trafen wir uns regelmässig mit Matthias Marschner und Tobias Friedel von Hirner & Riehl, um einen Beitrag auszutüfteln, welcher der Raumsituation des Deutschen Pavillons gerecht werden, spielerisch benutzbar sein und trotzdem etwas über das Bellevue erzählen sollte. Matthias und Tobias kennen das Bellevue wie ihre Westentasche. Matthias war der Architekt der Generalsanierung 2016-2018, er hatte den Dachsportplatz entworfen und war bereits vorher in die Debatten um die leerstehenden Häuser involviert. Tobias war der Bauleiter des Dachsportplatzes, zwischen April 2020 und der Einweihung im Oktober desselben Jahres war er praktisch täglich im und auf dem Bellevue. Gemeinsam mit uns haben die beiden lange an einem Tisch-Basketballkorb-Hybrid als bespielbaren Gegenstand für den Deutschen Pavillon herumüberlegt: kann man ihn nur benutzen, wenn man – im Sinne des Bellevue – mit anderen Besucher*innen kooperiert? Ist er rauffahrbar, herunterziehbar, umklappbar, als Tisch zum Zusammensitzen verwendbar? Und, um vom reinen Symbol wegzukommen, falls der Basketballkorb wirklich bespielbar ist, könnte er danach in Venedig bleiben, um eventuell bei einer Unterkunft für Geflüchtete einen neuen Sportplatz auszustatten?

Das Konzept des Kurator*innenteams, Pflege, Reparatur und Instandhaltung als Grundlage für nachhaltiges Wirtschaften (erneut) ins Bewusstsein zu bringen, war einerseits klar, wahr und einleuchtend. Andererseits fächerte es sich in zahllose gesellschaftspolitische Fragestellungen auf, die schwer zu fassen waren. Logisch, dass wir als Organisation aus der Flüchtlingshilfe, im Kontext eines deutschen Biennale-Beitrages für die Themen Flucht und Migration «zuständig» waren. Themen, zu denen es eine Menge zu sagen gäbe, denn die Behandlung der Geflüchteten durch die Länder Europas schreit seit langem zum Himmel. Auch die politische Situation im Gastgeberland Italien geböte eigentlich eine deutliche Stellungnahme. Doch diese grossen Themen hätten im Ausstellungskontext der «grossen Geste» bedurft, man kann sie an einem solchen Ort nur symbolisch verhandeln.

Im Deutschen Pavillon hatte das Kurator*innenteam ein anderes Ziel: was hier passiert, sollte nicht symbolisch sein, nicht nur behauptet werden, sondern konkrete Auswirkungen in der Wirklichkeit haben. Im Grunde sollte die Institution Biennale gekapert werden, um über die Grenzen der elitären Kulturveranstaltung und nationalen Selbstinszenierung hinaus, der gastgebenden Stadt etwas zurückzugeben – auch und gerade an den Stellen, wo der Glanz der Ausstellung nicht hinreicht.

In regelmässigen Zoom-Calls mit Anne Femmer, Anh-Linh Ngo, Melissa Koch, Florian Summa und anderen aus dem Kurator*innenteam bekamen wir in diesen Monaten mit, wie sich die Planungen für den Pavillon konkretisierten und veränderten. Klar war, dass im Hauptraum grosse Mengen Abbruchmaterial aus den Länderpavillons der Kunstbiennale vom Vorjahr eingelagert würden, um für Reparatur- und Instandhaltungsprojekte in und um Venedig verwendet zu werden. Ein grosser Bereich des Deutschen Pavillons sollte zur gut ausgestatteten Werkstatt werden, die von Gruppen aus Deutschland wochenweise genutzt werden könnte. Klar wurde aber auch, dass der «Spielbereich» entfallen würde. Vor Weihnachten 2022 setzte dies unsere Planungen zurück auf null.

Das Pandora

Für unseren eigenen Beitrag wollten wir von Anfang an gerne mit einer örtlichen Initiative zusammenarbeiten. Dass Venedig, zwar unter anderen Vorzeichen als München, aber mindestens genauso heftig unter Gentrifizierung leidet, ist ja bekannt. Wir gingen davon aus, dass auch dort Kämpfe ausgefochten werden, um Raum für die angestammte Bevölkerung zu erhalten oder ihn sozialen Zwecken zu widmen. Florian zeigte uns Bilder vom Centro Sociale Rivolta auf dem venezianischen Festland, wo er mit einer Gruppe von Architekturstudierenden schon einmal ein Repair-Projekt durchgeführt hatte. Hier gab es auch eine kleine Unterkunft für Geflüchtete, eventuell wäre ein gemeinsames Projekt denkbar? Wirklichen Kontakt herzustellen, war nicht leicht: das Zentrum wird von Ehrenamtlichen betrieben, die tagsüber Geld verdienen oder studieren müssen und zusätzlich noch stark in multiple politische Aktivitäten in Venedig eingebunden sind. Doch schliesslich gelang es uns im Frühjahr 2023 einen Besuchstermin im Rivolta auszumachen - Hurra!!!

Wie sich herausstellen sollte, verbindet uns mit dem Centro Sociale Rivolta, neben der Arbeit mit Geflüchteten und dem Engagement für soziale Themen, nicht zuletzt auch unsere Vergangenheit als «Hausbesetzer». Mitte März fuhr die Bellevue-Abordnung bestehend aus Till Hofmann (dem Vorstandvorsitzenden und Mitgründer), Barbara Bergau (der Projektleiterin des Bellevue) und mir nach Venedig. In Venedig-Mestre holte uns Elena Carraro vom Bahnhof ab und nahm uns mit ihrem kleinen Auto mit nach Marghera ins Rivolta, wo wir noch weitere Aktivist*innen trafen. Das autonome Zentrum gibt es seit den 1990er Jahren. In einem Gewerbegebiet am Canale Industriale wurde eine ehemalige Gewürz-Verpackungsfabrik zu mehreren Veranstaltungshallen und eigener Gastronomie mit Pizzeria, einem Club und Kino umgenutzt. Ebenso wie im Bellevue spielt auch der Sport eine Rolle, es gibt eine kleine Turnhalle, in der verschiedene Gruppen trainieren. Auf dem Dach haben die Menschen vom Rivolta eine Photovoltaik-Anlage installiert und sind auf diese Weise auch Energieerzeuger. Direkt neben dem Rivolta liegt die Flüchtlingsunterkunft der Cooperativa Caracol, in der Elena hauptamtlich arbeitet und die wir mit ihr zusammen besichtigen durften.

Das Rivolta machte einen unglaublich lebendigen Eindruck und gefiel uns schon sehr gut, es kam aber noch besser: mit Elena fuhren wir weiter nach Mestre ins Centro Climatico Pandora. Das von venezianischen Aktivist*innen so getaufte Haus hat zwei Geschosse, hohe Räume, grosse Fenster mit alten Holzjalousien und steht in einer kleinen Grünanlage. Die Aktivist*innen hatten sich Zugang zu dem leerstehenden Gebäude verschafft, benutzen es nun regelmässig für diverse Aktivitäten und wollen es zu einem kulturellen Zentrum umwidmen. Direkt neben dem Haus ist ein eingezäuntes Gelände, wo viele Jahre zuvor die alte städtische Klinik von Mestre abgerissen worden war und seitdem nichts mehr passiert ist. Das heutige Pandora diente einst der Patientenaufnahme, dann stand es über zehn Jahre leer. Elena führte uns im Gebäude herum, das die engagierten Festlandvenezianer*innen mit einfachen Mitteln nutzbar gemacht hatten. Der grosse Erdgeschossraum, quasi die «Lobby» des Hauses, war zur Nutzung durch Gruppen eingerichtet, eine Toilette war wieder in Gang gesetzt worden und eine kleine batteriegespeiste Stromversorgung sorgte für Licht in den Innenräumen. Als wir das Pandora sahen, waren wir sehr an «unsere» diversen Leerstände in München erinnert. Uns drei Besuchern war sofort klar, dass wir etwas für dieses Haus tun wollten.

Der Pavillon

Am nächsten Tag empfing uns Florian am Eingang des Biennalegeländes und führte uns zum Deutschen Pavillon, wo die Vorbereitungen für den Start der Ausstellung auf vollen Touren liefen. In allen Räumen war das Abbruchmaterial der letztjährigen Kunstbiennale eingelagert: Platten, Balken, Rohre, aus Holz, Metall und diverseste Materialien waren zu beeindruckenden Stapeln aufgetürmt. An den meisten Werkstoffen befanden sich Zettel, aus welchem Länderpavillon sie stammten. Die Welt kommt zusammen – als Kunstschutt. Florian erzählte uns, dass die Installationen nach den Biennalen meist einfach herausgerissen und in offene Transportboote geschmissen werden, mit denen sie zum Festland gefahren werden. Tausende Euros muss jeder Pavillon ins Budget einplanen, um diese Ex-und-Hopp-Innenarchitektur wieder loszuwerden. Mischmüll, teuer in der Entsorgung, vom ökologischen Aspekt ganz zu schweigen. Florian zeigte uns auch die Werkstatt, die im Seitenflügel schon fast fertig eingerichtet auf ihre Benutzer*innen wartete, sorgfältig mit von Firmen gesponsorten Werkzeugen und Maschinen ausgestattet. Jetzt, wo wir die Werkstatt und die Stapel vor uns sahen und Florians begeisterte Schilderungen hörten, wie das ganze Material bei diversen Projekten weiterwerdet werden würde, waren wir vom Konzept der Kurator*innen überzeugt. Den Deutschen Pavillon für die Dauer der Biennale zu einem regelrechten Wertstoffhof zu machen, empfanden wir als mutiges Zeichen gegen eine Wegwerfmentalität, die auch beim Bauen heutzutage Normalität geworden ist.

Zurück in München fiel der Entschluss, die Einladung anzunehmen, in der Eröffnungswoche als erste Gruppe die Möglichkeiten im Pavillon zu nutzen und uns ergebnisoffen auf die deutsche Biennale-Werkstatt einzulassen. Ergebnisoffen insofern, als wir mit den Materialien arbeiten wollten, die wir dort vorfinden würden. Feststehen sollte aber vorher, was gebaut, also was im Pandora wirklich gebraucht wird. Enrica Ferrucci, eine Münchner Architektin, die Erfahrung mit Gruppen- und Upcycling-Projekten hat, verstärkte unser Team und begann zusammen mit Tobias die Vorplanung, damit es in der Werkstattwoche in Venedig dann gleich zur Sache gehen konnte. Im Austausch mit Elena und den anderen Engagierten vom Pandora erfuhren wir, dass sie sich eine Bar für den grossen Erdgeschossraum wünschten. Dort finden die meisten gemeinschaftlichen Aktivitäten statt, bisher nutzte man als Provisorium den alten Klinik-Empfangstresen der Patientenaufnahme. Die Bar sollte aber auch beweglich sein, um einerseits im Garten um das Haus genutzt werden zu können und um – falls die Verwaltung der Stadt das besetzte Haus doch noch räumen lassen sollte – auch mitgenommen werden zu können.

Vor Ort

Seit dem 18. Mai, dem Donnerstag vor dem Eröffnungswochenende waren wir nach und nach in Venedig eingetrudelt, hatten das Pre-Opening der Biennale besucht, waren am Freitag auf dem Strassenfest in der Siedlung Casette auf der Giudecca gewesen, mit dem der Deutsche Pavillon seinen Auftakt gefeiert hatte. Die dortige Nachbarschaft kämpft seit vielen Jahren mit grossem Engagement gegen die Gentrifizierung. Unter der Parole «Case per tutti» werden in diesem einstigen Arbeiterviertel Wohnungen gegen Luxussanierung verteidigt und für die normalverdienende Bevölkerung erhalten. Am Samstag, dem Eröffnungstag der Biennale, fand auf dem Plateau vor dem Deutschen Pavillon die Podiumsdiskussion des BDA (Bund Deutscher Architekten) unter dem Motto «Leerstand provoziert – Gemeinwohlorientierte Bestandsaktivierung» statt. Matthias hatte das Bellevue di Monaco ein weiteres Mal als praktisches Beispiel vorgestellt und war dafür von der Moderatorin als «Rebell» bezeichnet worden. Am Sonntag waren wir nochmals im Rivolta, das geradezu am Kochen war, denn an diesem Tag fand das «Venezia Hardcore Festival» mit hunderten Besucher*innen statt. Inmitten des Trubels hatte Elena dennoch Zeit gefunden, mit uns die Beteiligung der Pandora-Aktivist*innen an den kommenden Werkstatttagen auf der Biennale zu besprechen.

Am Dienstag, den 23. Mai, startete dann offiziell unsere Atelierwoche in den Giardini der Biennale. Tags zuvor war der Rest unseres Teams mit dem Kleintransporter von München aus angereist. Eine kleinere Gruppe war bereits am selben Tag im Pandora gewesen, Tobias und Enrica hatten den Aktivist*innen dort die Vorüberlegungen zur Bar-Möblierung präsentiert und waren danach gemeinsam mit den Venezianer*innen in den Deutschen Pavillon gekommen, um das Baumaterial zu sichten. Eine kurze intensive Woche arbeitete die Münchner Bellevue-Truppe nun in der Werkstatt gemeinsam mit den Venezianer*innen des Pandora. Per Vaporetto und zu Fuss kamen wir morgens pünktlich zur Öffnung des Geländes, durften an der Fahnenstange vor dem Gebäude unser Bellevue-Banner hissen und so den Pavillon symbolisch in Beschlag nehmen. Im «Westflügel» des Pavillons übernahmen Tobi und Enrica als Architekt*innen sowie unser Bellevue-Hausmeister Matini Zahn als gelernter Zimmermann, die Leitung der Werkstatt. Wechselweise arbeite der Rest der Münchner Gesandtschaft bestehend aus Bellevue-Teammitgliedern und Bewohner*innen quasi als «angeleitete Laien» in verschiedenen Funktionen mit: Abdullah, Barbara, Donika, Nasim, Reza, Lotte, Mohammed, Shegy, Till und ich. Vom Pandora waren immer wieder Daniele, Elena, Filippo und Maria dabei. Viel Zeit hatten wir nicht, die Werkstatt-Woche bestand eigentlich nur aus dreieinhalb Tagen, da bereits am Freitag das Lastenboot zum Abtransport der fertigen Bar Richtung Mestre gebucht war.

Um die von uns ausgesuchten Materialien zu bergen, mussten wir im grossen Hauptraum des Pavillons zuallererst riesige Stapel umschichten. Eine Idee, das Plattenmaterial aus kleineren Stücken zusammenzufügen, wurde verworfen, da die Boxen bei ihrem vorgesehenen mobilen Einsatz äußerst robust und zugleich leicht werden sollten. Ein fachgerechtes Verleimen von Verschnitt zu größerem Plattenmaterial hätte außerdem den zeitlichen Rahmen gesprengt. Vom österreichischen Beitrag «Invitation of the Soft Machine and Her Angry Body Parts» auf der Kunstbiennale 2022 gab es farbig bedruckte Holzplatten mit einem Dekor in Anmutung der 1970er Jahre. Der Rest der Bar sollte aus den reichlich vorhandenen Siebdruckplatten, einigen Lüftungsgittern und ein paar Riemen und Beschlägen gebaut werden. Die Idee der «mobilen Bar» war, dass sie aus fahrbaren Modulen zusammengesetzt sein sollte, die man dann am jeweiligen Aufbauort flexibel, je nach Längenbedarf zu einer Einheit koppeln kann. Mit den in der Werkstatt vorhandenen Werkzeugen wurden Zuschnitt und Montage durchgeführt, für das «Branding» besorgte man Spraydosen, um mit handgeschnittenen Schablonen die Pandora- und Bellevue-Logos aufzubringen. Planmässig ging die Arbeit voran. Da in der Pavillon-Werkstatt zwar eine stationäre Kappsäge zum Ablängen von Balken und Latten vorhanden war, aber keine Formatkreissäge zum Zuschnitt großer Platten, wurde hierfür die Handkreissäge mit Führungsschiene verwendet. Der Zuschnitt wurde von den Kreissäge-Erfahrenen im Team durchgeführt, während die anschließende Abrundung der Schnittkanten mit der Oberfräse auch von den Unerfahreneren gefahrlos ausgeführt werden konnte. Das im Depot vorhandene Material inspirierte unsere Truppe auch noch zum Bau einiger Lampen, die man zur Beleuchtung der Bar gut brauchen kann.

Labor der Zukunft

Die Idee der offenen Werkstatt beinhaltet, dass die Besucher*innen des Deutschen Pavillons während der Öffnungszeiten in den Werkstattraum hineinschauen können. Neben der Kuratorin Anne Femmer, die täglich vor Ort war, wurden wir auf diese Weise auch zu Ansprechpartner*innen der Besuchenden. Oft wurden wir in Gespräche zum Gesamtkonzept des Pavillons verwickelt. Eine ältere Architektin fühlte sich an ihre Studienzeit erinnert, in der es bereits um das Thema der Ökologie beim Bauen gegangen war. Sie war der Meinung, dass man in der Debatte doch inzwischen «viel weiter» sein müsste. Die reine Thematisierung des Ressourcenverbrauchs war ihr nicht genug, sie hätte sich Lösungsvorschläge gewünscht. Auch anderen Besuchenden war der deutsche Beitrag zu kleinteilig, angesichts der Grösse des Problems. In diesen Gesprächen versuchte ich, mit unseren Bellevue-Erfahrungen eine Lanze für die kleinen, lokalen Initiativen zu brechen, die praktisch aufzeigen, dass ein anderes Wirtschaften möglich ist. Deren Aktivitäten können nur komplementär zu grösseren übergeordneten Regelungen durch Gesetzgeber oder internationale Vereinbarungen sein. Auch hier gibt es eine Gemeinsamkeit zwischen ökologischer und «sozialer Nachhaltigkeit», wenn man das Ziel unserer Arbeit im Bereich Flucht und Migration als solche übertiteln möchte. Oder anders gesagt: Wenn man, wie das Bellevue in München oder wie der Deutsche Pavillon in Venedig, mit seinen vielen kleinen unterstützten Gruppen und Projekten es nicht schafft, vor Ort in der Praxis zu überzeugen – sei es beim Klimaschutz oder den Menschenrechten – ist es zweifelhaft, ob die Politik es im Grossen schaffen kann. Deswegen, glaube ich, hat der «Grass-roots»-Ansatz des Deutschen Pavillons auch im Jahr 2023 seine absolute Berechtigung.

Da unser Team gross genug war, hatten auch wir die Gelegenheit, neben der Arbeit in der Werkstatt die anderen Pavillons und Ausstellungsräume zu besuchen. Das Motto der diesjährigen Architekturbiennale «The Laboratory of the Future» wurde von den meisten Beitragenden völlig zurecht als die Aufforderung verstanden, sich mit der Nachhaltigkeit des Bauens und Wohnens und deren Effekten auf die Biosphäre zu befassen. Es stellt sich die Frage, inwieweit im Rahmen einer solchen Grossveranstaltung, die zudem auch noch nationale Repräsentationswünsche bedienen muss, ein Ausstellungsbeitrag mehr sein kann, als ein biologisch-dynamisches Feigenblatt, das an eine Branche geheftet wird, deren Umweltbilanz in der Summe immer noch vernichtend ausfällt. Der weisse Elefant in jedem Ausstellungsraum ist das Ablaufen der Zeit, die der Menschheit bleibt, den globalen Ressourcenverbrauch auch und gerade beim Bauen auf einen Bruchteil zu senken.

Ehre und Erfahrung

Auch die Biennale selbst, als internationales Event mit jährlich mehreren hunderttausend Besuchenden und ihrem Ausgreifen in das gesamte Stadtgebiet hat natürlich Auswirkungen. Mittlerweile betreibt die Biennalegesellschaft eine eigene Agentur, welche die benötigten Immobilien in ganz Venedig managt. Mit einem solch hungrigen Apparat ist ebenfalls ein (selbst-)kritischer Umgang erforderlich. Der Beitrag im Deutsche Pavillon versucht durch die Partizipation lokaler Initiativen die problematischen Seiten für die gastgebende Stadt Venedig abzumildern. Auf die Architekturbiennale Venedig und zu einem solchen Beitrag eingeladen zu werden ist für ein Projekt wie das Bellevue di Monaco eine grosse Ehre, dann tatsächlich vor Ort zu arbeiten auch einfach eine grossartige Erfahrung. Der Deutsche Pavillon wurde für ein paar Tage zu unserem Hauptquartier, die Park-Ecke mit den altehrwürdigen Länderpavillons zu unserem Kiez. Jeden Mittag versammelte sich das Team auf den seitlichen Stufen im Schatten der grossen Bäume zum Picknick. Um die Ehre und Erfahrung herum musste ja auch noch die Verpflegung für die ganze Truppe sichergestellt werden. Auch sonst war rings um unsere Teilnahme einiges an Organisation und Logistik nötig: Unterkunft, An- und Abreise aller Beteiligten, die Fortbewegung innerhalb der Stadt. Diese nimmt einen in Venedig in besonderer Weise in Anspruch. Der Weg zu den Giardini oder von ihnen weg, dauerte immer mindestens eine dreiviertel Stunde, zu Fuss und/oder mit dem Vaporetto. Speziell für die Venedig-Neulinge unter uns waren die Fusswege durch die Stadt eine Herausforderung. Das Biennale-Gelände schliesst täglich um 18:00 Uhr, um 19:00 Uhr begaben wir uns spätestens auf den Heimweg. An zwei Tagen fiel der Nahverkehr komplett aus, zunächst wegen eines Streiks und dann wegen des Ruderbootrennens Vogalonga, das einmal im Jahr stattfindet. Zu diesem Anlass wird Venedig komplett für alle motorisierten Schiffe, also auch für Taxis und Vaporetti gesperrt. Der eindrucksvolle Anblick tausender Freizeit-Paddler die bei San Marco auf den 30-Kilometer-Rundkurs starteten, liess uns unsere brennenden Fusssohlen aber wieder vergessen.

Freitag hiess es dann Abschied nehmen von den Giardini, wir zogen aus der Werkstatt aus und verluden die fertigen Bar-Elemente in das gecharterte Boot zu unserem Kleintransporter, der seit Dienstag am Tronchetto geparkt war. Am Samstag erkundeten wir noch ein bisschen Venedig und am Sonntag fuhren wir die 20 Kilometer nach Mira an der Brenta, wo nach der Covid-Pandemie erstmals wieder das jährliche Antirassistische Fussballturnier des Rivolta stattfand. Zahlenmässig durch einheimische Aushilfskicker ergänzt, kämpfte sich das Bellevue-Team bei schwül-heissem Wetter in drei Spielen tapfer durch die Gruppenphase und belegte in der Gruppe D den letzten Platz. Nach diesem frühen Ausscheiden erfolgte noch eine kurze Übergabe der Bar ans Pandora, bevor sich die Besatzung unseres Kleintransporters auf den langen Heimweg über den Brenner machte.

Leider haben wir so den ersten Einsatz der Bar dann nur virtuell erlebt, trotzdem haben uns die Instagram-Bilder eines Festes Anfang Juni im Aussenbereich des Pandora, auf denen unsere Bar zu sehen war, ein kleines bisschen stolz gemacht. Ich hoffe, dass das Pandora im besetzten Haus in Mestre bleiben kann, sich entwickelt und eines nicht allzu fernen Tages auch von der Stadt Venedig anerkannt und als wichtiger soziokultureller Ort gefördert wird. Wenn wir durch unsere «internationale Zusammenarbeit dazu einen kleinen Beitrag geleistet haben, hat das Biennale-Projekt bereits seinen Sinn gehabt. Und wir alle vom Bellevue freuen uns natürlich über die entstandene Freundschaft mit dem Rivolta/Pandora und den Gegenbesuch der Venezianer*innen bei uns in der Münchner Müllerstrasse.

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