Neuland

Eine Exkursion in eine unbekannte Gegend, in der die kuriose deutsche (Bau-) Geschichte greifbar zu erleben ist: die Lausitz, eine Landschaft im Süden Brandenburgs und nordöstlichen Sachsen, die über die Neisse bis nach Niederschlesien in Polen reicht. In seinem Reisebericht erzählt Wolfgang Bachmann von Kulissen der DDR, ihrer westlichen Aufarbeitung und einer herausgeputzten barocken Prächtigkeit – in unmittelbarer Nachbarschaft.  

Manchmal sind es beiläufige Beobachtungen, an denen man erkennen kann, wo man sich gerade befindet und was sich herum ereignet hat. Hier in der Lausitz sind es Autokennzeichen, die fast ausnahmslos mit drei Buchstaben beginnen: SPN, FOR, SPB, GUB. Kein Hinweis auf besonders kleine Städte, sondern auf die Nachwende-Zuteilung der Ortskürzel, als viele Buchstabenkombinationen schon vergeben waren. Ein anderes Indiz sind die gelben Mülltonnen für Kunststoffe, Folien, Dosen, Schalen, Becher, Deckel und Tuben. Sie sind gross, manchmal stehen gleich zwei bei den Häusern. Sie zeigen an, wie die Versorgung läuft. In den Dörfern gibt es nämlich keine Läden mehr. Man kauft Eingeschweisstes beim Discounter oder lässt sich beliefern.

Es läuft also ähnlich wie im Westen, und doch unterscheidet sich das flache Land im Osten unverwechselbar. Nur in den umtriebigen Städten geht es anders zu. Wenn man die Zentren der «Schwarmstädte» Erfurt, Weimar oder Dresden besucht, staunt man jedes Mal, wie viel Altstadt gerade wieder fertig geworden ist. Sandgestrahlt, frisch verputzt, lackiert und vergoldet wetteifern die Fassaden um die Auszeichnung der Denkmalpflege. Die begehrten Handwerker aus Polen haben es nicht weit. Mit dieser neuen Prächtigkeit kann der Westen nicht mithalten.

 

Landfrieden 

Aber wir sind nicht in der Stadt. Wer aus Süddeutschland kommt, wird die Lausitz mit ihren platten Weiden und Kieferwäldern wie die norddeutsche Tiefebene wahrnehmen, dort ging es immer durch, wenn wir Kinder zur Erholung an die Ostsee gekarrt wurden. Aber jetzt scheint sich alles gegen den Fremdenverkehr verbündet zu haben. Das Granitpflaster in den Dörfern ist scharfkantiger als unser heimischer Katzenkopf-Basalt, alle Kanten sträuben sich gegen das Befahren, tiefe Spurrinnen legen es nahe, auf den unbefestigten Sandstreifen am Rand auszuweichen. Dann folgen Teerwege, schmal und von Sonne und Gebrauch zu einer starren Dünung onduliert. Das Fahren hat etwas von Navigieren. Es ist das erste Mal, dass man sich einen Geländewagen wünscht. Wie haben «Trabbis» nur diese Buckelpisten bewältigt? Die Strecken sind kurvenreich, winkeln sich manchmal so scharf, als hätte man auf private Besitzverhältnisse achten müssen. Die Wegweiser zu den Orten mit den vielen Konsonanten werden bisweilen durch noch unaussprechlichere Bezeichnungen ergänzt. Kein Polnisch, sondern Sorbisch, der Dialekt der ethnischen Minderheit in der Lausitz. Wir passieren einen Flecken, der zu den Feldern von hohen Bäumen gesäumt wird. Mächtige Scheunen markieren die erste Kurve wie Stadtmauern. Sie sind aus roten Ziegeln gemauert, glatte Flächen, von linearen Borten und ornamentalen Lüftungsöffnungen gegliedert. Die leerstehenden Gebäude sind einfach alt geworden, weder ruinös noch ehrfürchtig als traditionelle Bauweise herauspräpariert. In Berlin oder München hätte man daraus eine Kulturscheune gemacht. Ein Bauer zeigt uns die Hofseite. Sie wird von einem tiefen Riss geteilt, die gliedernden Zackenfriese sind zersplittert, die glatten Flächen übersät mit Einschusslöchern. Der Krieg ist nach einem Menschenalter immer noch ablesbar.  

Überhaupt: der Krieg. Vielleicht liegt es an der angstbesetzten Situation durch den Angriff auf die Ukraine, dass sich gegenwärtig solche Bilder aufdrängen. Wenn man in der Dämmerung zum Neisse-Ufer spaziert, dort die zum Fluss ragenden Trümmer der Betonbrücken oder die rostigen Fachwerke der Eisenbahnviadukte sieht, kann man sich lebhaft vorstellen, wie russische Panzer durch die Äcker pflügen. Am bayrischen Tegernsee entstehen solche Bilder nicht, da denkt man nicht mal an den Miesbacher Bauernaufstand von 1705. Doch diese Landschaft birgt weitere Details, die negativ besetzt sind. Man kann zum Beispiel drei Typen von alten Strassenlaternen ausmachen. Betonpfeiler mit den sogenannten Rundscheibenleuchten, die überwiegend in städtischer Umgebung gereiht sind, Modelle mit fischförmigem Alu-Gehäuse und schliesslich diese Apparateleuchten, die wie Überseekoffer auf ihren dünnen Kragarmen stecken. Von Design zu sprechen wäre euphemistisch. Sie geben als Hochdruck-Quecksilberdampflampen ein bläuliches und als Natriumdampflampen ein orangegetöntes Licht. Beides gespenstisch. Man kennt sie noch von den innerdeutschen Grenzübergängen an den Transitstrecken und der Berliner Mauer. Mit ihnen verbindet sich ein Gefühl von Kontrolle und Überwachung. Das war Zone.

 

Erbschaft dieser Zeit 

Die ländlichen Wohnhäuser sind selten aus Sichtziegeln gemauert. Wie vereinbart haben sie alle die gleiche Putzfarbe, ein schmutziges Graubeige, erinnert an Nikotinfinger. Warum gab es in der DDR nur diese Farbe? Man könnte sie fast für eine vorgeschriebene Tarnung halten. Im heissen August verschwinden die Häuser zwischen den vertrockneten Äckern. Eine Eigenheit sind die Gartenzäune. So wie sich in Bayern die an verdrilltem Draht aufgefädelten Staketen erhalten haben und der Scherenzaun zum Reihenhaus der fünfziger Jahre gehörte, hatte sich auch in der Lausitz das selbstgebaute Metallgitter durchgesetzt. Ein Volk von Eisenbiegern und Schweissern! Was immer sich montieren liess, wurde dafür verwendet: Flacheisen, Winkelprofile, Armierungsstähle, Wasserrohre, Hufeisen. Da es von allem zu wenig gab, war man gehalten, den Mangel mit Schmuckformen wettzumachen. Man findet also keine Patrouille aus lauter gleichen Stäben oder normierte Raster, sondern erfindungsreich zusammengehäkelte Gitter, die mit den gerade erhältlichen (immer glänzenden) Lackfarben angepinselt wurden. Sie haben sich bis heute erhalten, erst allmählich verschwinden sie. Wer nach der Wende bauen konnte, hat sich auch einen neuen Zaun geleistet. Weniger für das im Westen vorherrschende Doppelstabmattengehege mit Sichtschutzbanderolen oder aufgestellte Gabionen, eher Solides aus dem Baumarkt. Also wie die alten Gitter, nur jetzt herrschaftlich profiliert und aus lauter gleichen Teilen geschmiedet.

1 SED – Sozialistische Einheitspartie Deutschlands. In der sowjetischen Besatzungszone 1946 durch die Zwangsvereinigung aus SPD und KPD entstanden, 1949 zur führenden Staatspartei der DDR etabliert.

2 VEB – Volkseigener Betrieb. Nach der Enteignung und Verstaatlichung von Privatunternehmen die in der DDR geltende Rechtsform für die staatlich gelenkte Ökonomie

«Lebendige Lausitz»

hochC

Das Basteln und Bosseln gehörte im Arbeiter-und-Bauern-Staat zu den lebenserhaltenden Tätigkeiten. Man könnte sie als immaterielle Kulturgüter unter Schutz stellen. Auch wer kein Handwerker war, vertraute auf sein Geschick. Von Nachhaltigkeit war in den Fünfjahresplänen der SED-Führung keine Rede.1 Es gab praktische Gründe, mit den Ressourcen verantwortlich umzugehen. Diese Mentalität hat sich auf dem Land erhalten. Die kleinen oft als Nebenerwerb privat geführten Landwirtschaften mit ihren vielen Scheunen, Schuppen und Garagen sind wahre Materiallager. Hinter unserer Ferienwohnung sind an einer Wand Konsolen angebracht, in denen säuberlich geordnet Metallrohre, Alustäbe und PVC-Kanäle lagern. Zwischen den Garagen lehnen unter einem Vordach Glasscheiben und Acryltafeln. In der höheren Scheune stehen in einer Ecke Kanthölzer und Bohlen parat. Mit den gestapelten Kiefernscheiten werden Holzvergaserheizungen versorgt. Wenn ein Tor offensteht, sieht man selbstgefertigte Werkbänke und Geräte, meist alles mehrfach und offensichtlich in verschiedenen Abnutzungszuständen. Weggeworfen wird erst mal nichts. Aus vier alten Rasenmähern lässt sich ein neuer bauen. Auch unser Feriengarten könnte für eine Erlebensgeschichte herhalten. Da steht eine Art gemauerte Laube mit krummen weissen Plastikmöbeln, an der Wand hängen ein Rasierspiegel und ein Thermometer. Ein liebevoll aus dunklen Klinkern gemauertes Bassin mit Zapfstelle diente einmal zur Bewässerung. Den Mittelpunkt der Wiese markiert ein fünfarmiger Leuchter mit zerbrochenen Kugellampen, er ist aus unterschiedlichen kantigen Hohlprofilen geschweisst und liesse sich als Persiflage der Werktätigen auf die herrschaftliche Gartenkunst des Adels lesen.

An den kleinen grauen Häusern wurde wenig verändert. Die matten Kunststofffenster könnten noch aus VEB-Produktion stammen.2 Man hat das Gefühl, wer es sich leisten kann, baut lieber gleich neu, bisweilen auf demselben eigenen Grundstück. Die neuen Häuser strahlen in frischen Pastellfarben, dick in ein Wärmedämmverbundsystem gepackt, nicht weniger grell als im Westen.

 

Aus dem Dunkeln tappen 

Es mag Einbildung sein, aber wenn man von einem Ausflug zurückkehrt, sind die kleinen Ortschaften tot. Sie wirken unbewohnt. Nur das Unkraut wuchert. Selbst aus dem kargen Nordpfälzer Bergland kennt man das nicht. Liegt es an den stolperigen Strassen, den ruinösen Schuppen, grossen Grundstücken und dunklen Bäumen: Es macht kein gutes Gefühl, hier herumzulaufen. Manchmal schlagen Hunde an. Man könnte wetten, ob man drei, vier oder sogar einmal fünf Lichtquellen im ganzen Dorf entdeckt. Die gängige Formulierung «Einbruch der Dunkelheit» klingt auf einmal wie eine Bedrohung. Schauen alle fern hinter ihren geschlossenen Läden? Handy-Empfang gibt es jedenfalls nicht. An einigen Häusern lassen sich noch Indizien einer ehemaligen geschäftlichen Nutzung erkennen. Ein stattliches weiss verputztes Haus hat Aussenleuchten einer Kulmbacher Brauerei an der Fassade. Also hat sich jemand nach der Wende mit Gastronomie versucht. Jetzt gibt es nur noch diese Lämpchen, kein Wirtshaus mehr. Die Spurensicherung bleibt spannend, zu lesen, was sich absichtslos abgebildet hat. Die alte Dorfkirche in Preschen, ein Feldsteinbau aus dem 14./15. Jahrhundert würde interessieren. Aber erwartungsgemäss ist sie verschlossen. Innen gäbe es einen Barockaltar, Fresken, eine abgehängte Holzlattendecke und einen modernen grünen Kachelofen, weiss das Internet. Wer hat während der 40 DDR-Jahre überhaupt die Kirchen erhalten? Materiell? Spirituell?

Mehr Glück hat man mit der grossen Christuskirche in Döbern, ein stattlicher Bau von 1908, der zwischen Jugend- und Heimatstil changiert. Er gehört in das umfangreiche Sakralportfolio des Architekten Georg Büttner. Das über drei unterschiedliche Eingänge organisierte Kirchenschiff mit den ausschweifenden Emporen hätte zu seiner Bauzeit sicher alle Einwohner des Ortes aufnehmen können. Gross geworden ist die Stadt mit Bergbau und Glasfabriken. Als einziges neues Gebäude fällt die «praxisorientierte Grund- und Oberschule» von SEHW Architekten auf, ein monolithischer kantiger Quader aus hellen Kohlebrandklinkern, die einen regionalen Bezug zur ehemaligen Bergbauregion aufnehmen. Einschnitte im Erdgeschoss unterbrechen die regelmässige Fassadenordnung und präparieren Eingang und Aula heraus. Eine Frau aus einem Haus gegenüber hat unser Interesse bemerkt. Das ist die Gelegenheit, etwas loszuwerden. Ob das neue Schulgebäude in die Stadt passt, dazu möchte sie sich nicht äussern. Die zwei Jahre Bauzeit waren jedenfalls strapaziös für die Anwohner. Und es hört ja nicht auf. Glauben Sie, fragt sie, die Mütter, die ihre Blagen abholen, fahren auf den dafür angelegten Parkplatz? Nein, die halten mit laufendem Motor in Zweierreihen direkt vor dem Eingang. Aber wenigstens ziehen die jungen Familien nicht weg. Die Berliner Architekten mit Niederlassungen in München, Stuttgart, Duisburg und Wien sehen ihre Schule als einen Beitrag, der Abwanderung mit modernen Bildungsangeboten entgegenzuwirken, «etwa mit einer Schule nach neuesten pädagogischen Erkenntnissen und mit hohem architektonischem Anspruch. Solch eine Schule haben wir für die Lausitz gebaut: den Primarbereich eines inklusiven Schulzentrums in Döbern. Drei Geschosse, zwei Züge für 360 Schüler.»   

 

Spuren von Arbeit und Nichtstun

Der Strukturwandel ist das Problem, aktuell noch brisanter, weil der Braunkohletagebau auf der Kippe steht. Döbern hat nach der Wende 35 Prozent seiner Einwohner verloren. Nicht besser sieht es in der Kreisstadt Forst aus. Sie galt mit ihren Tuchfabriken einmal als «das deutsche Manchester». Im 19. Jahrhundert existierten 290 Betriebe, die mit der Herstellung von Garnen und Stoffen zu tun hatten. Obwohl die Stadt nach dem Krieg zu 85 Prozent zerstört war, blieben einige der grossen Industriegebäude erhalten. Auch nach der Gründung der DDR produzierten die nun als VEB Tuchfabriken Forst zusammengelegten Unternehmen weiter. Das ist vorbei, jetzt bleiben die roten und gelben denkmalgeschützten Fabrikschlösser mehr oder weniger dem Verfall überlassen. In einer zentralen Grossstadt wären dafür längst attraktive Nutzungen gefunden. Aber wie viele Start-ups will man hier, einen Steinwurf vor der polnischen Grenze, ansiedeln? Und für die Nachtschwärmer ein «Kunstpark Ost» (obwohl der Name gut passen würde) funktioniert auch nur in München.

Zwischen den Betriebsgebäuden stehen noch die ehemaligen Fabrikantenvillen. Von Neurenaissance bis Neue Sachlichkeit reicht das Spektrum. Aufwändig saniert würde man dafür in Blankenese oder Dahlem einen höheren Millionenbetrag erlösen. In Forst warten viele Villen auf neue Eigentümer, manchmal schützt wenigstens ein neues Dach das marode Gemäuer. Von den 26.000 Einwohnern im Jahr 1989 sind noch 17.500 geblieben. Um die St. Nikolai-Kirche, deren Substanz nach regelmässigen Zerstörungen seit dem 15. Jahrhundert immer wieder verändert und umgebaut wurde, hatte man die im Krieg vernichtete Stadtmitte mit Plattenbauten geschlossen. Sie standen inzwischen leer und wurden wieder abgerissen. Der windige Platz heisst nun in den Reiseführern Grüne Mitte, auf alten Fotos kann man dagegen ein grossstädtisches Karree mit Siegessäule erkennen.

Der eigentliche attraktive Erholungsraum der Stadt ist der Rosengarten am Neisse-Ufer, mit dessen Anlage man 1913 zum 25. Thronjubiläum von Kaiser Wilhelm II. begonnen hatte. Ausgestattet mit Skulpturen, Pergolen und Wasserspielen verbindet er Blumenbeete mit englischem Landschaftspark. Seit den 1950er Jahren gehört dazu ein Musikpavillon, mit dem auch die Lausitz vorsichtig an die westliche Nierentischzeit anschloss. 2009 hat eine unabhängige Jury das Baudenkmal als «Deutschlands schönster Park» ausgezeichnet.

Bekannter ist der Branitzer Park in Cottbus, der Mitte des 19. Jahrhunderts von Fürst Hermann von Pückler-Muskau gestaltet wurde. Er hatte zuvor auf beiden Seiten des Neisse-Ufers den Park um sein Schloss Muskau angelegt, das er jedoch aufgrund finanzieller Probleme aufgeben musste. Wer nach der Wende eilig einen Blick in den zunächst nur auf der deutschen Seite instandgesetzten Park werfen konnte, wird sich nicht an das sagenhafte Schloss erinnern. Da gähnten nur schwarze Ruinen, weil Pücklers Palazzo mitten in der Verteidigungslinie gegen die Rote Armee durch Brandstiftung vernichtet worden war. Heute prunkt hier ein restauriertes Bauwerk der Neorenaissance, wie man es noch nicht gesehen hat. Allein das mit Dachreitern und stalagmitenartigen Fialen verzierte Schweifwerk über der Traufe fordert die Nomenklatur der Kunsthistoriker heraus. Eine von Schinkel entworfene mächtige Treppenrampe stellt die Verbindung zum Park her. Die noch im Ausbau befindlichen Innenräume werden als Museum, Bibliothek und Café genutzt. Wenn man durch den weitläufigen Landschaftspark spaziert (um nicht von Wandern zu sprechen), fragt man sich, wie man diese Gartenkunst, die auf einen extravaganten adligen Lebemann des 19. Jahrhunderts (mit einer Vorliebe für minderjährige Mädchen) zurückgeht, den Werktätigen in der DDR erklärt hatte. Ist so ein feudaler Luxus nur im Kapitalismus möglich, weil er ausschliesslich für einige Wenige auf Kosten der besitzlosen Arbeiter und Bauern entstehen kann? Und darf die sozialistische Gesellschaft so eine Leistung, die sie selbst nicht wieder herstellen könnte, einfach als überlieferte Kulisse übernehmen? Das Kollektiv lustwandelt im Fürstengarten?

 

Angehaltene Frömmigkeit 

Ähnliches kommt einem beim Zisterzienserkloster Neuzelle, südlich von Eisenhüttenstadt, in den Sinn. Es ist eine Anlage, die im 17. und 18. Jahrhundert zu einem repräsentativen Barockensemble umgebaut wurde. Dazu gehört ein Klostergarten, der seit 25 Jahren von den Berliner Landschaftsplanern ‚hochC’ nach historischem Vorbild, doch ohne barocke Fülle in moderner Räson und mit architekturnahen Follies angelegt wird. Die Hangsituation erlaubt über die sorgsam gezirkelte französische Gartenkunst eine weite Aussicht in die Oder-Landschaft, als gehöre die profane Welt zwischen den beiden Barockkirchen zur kontemplativen Balance. Man kann nur staunen, hier am äussersten Zipfel der ehemaligen DDR so ein erhaltenes Kleinod des Hochbarock zu finden. Neuzelle? Zuvor noch nie gehört. Vor allem die grössere der beiden Kirchen, St. Marien, die aus einer gotischen Hallenkirche auf rechteckigem Grundriss geradezu schwelgerisch verwandelt wurde, erwartete man eher in Bayern als an der polnischen Grenze. Die mit unzähligen Engel-, Heiligenfiguren, assistierenden Löwen und hundertfach herumtollenden Putten bevölkerten Altäre bilden ein illustres Reservoir volkstümlicher Hermeneutik. Man stellt sich vor, wenn man in die Hände klatscht, werden die verkündenden, betenden, jubilierenden Wesen zum Leben erweckt, und man findet sich in einem Hosianna singenden Garten Eden wieder. Aber wir lassen es nicht auf das Wunder ankommen.

Tatsächlich machen nicht die touristischen Anziehungspunkte, die aus Mitteln des Europäischen Fonds für regionale Entwicklung finanziert werden, den Unterschied zu unserer vertrauten süddeutschen Heimat aus. Ausser, dass alles makellos neu aussieht und um so fremder in seiner strapazierten Umgebung steht. Ein Düsseldorfer Makler hat sich gleich nach der Wende vorausahnend in Görlitz eine Filiale eingerichtet. Seine Zielgruppe seien die solventen Rentner, erzählt er, die Herrschaften aus dem Rheinland, die früher für den Winter eine Bleibe auf Mallorca gesucht haben. Ihnen bietet er von polnischen Handwerkern sorgfältig sanierte Wohnungen und Häuser aus Mittelalter, Renaissance, Barock, Klassizismus, Gründerzeit und Jugendstil, hier gibt es alles frisch. Bei den einheimischen Bewohnern seien die Altbauten weniger beliebt. Sie kauften lieber was Neues am Stadtrand. Vielleicht hängt zu viel Erlebtes an der erhaltenen Spur der Steine.

Wir Sommergäste fahren zurück nach Westen. Vielleicht hat man uns gar nicht bemerkt. Wir haben ja auch ein Nummernschild, das mit drei Buchstaben beginnt.

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