Offene Meta-Landschaften

Die kurze Lebensdauer vieler heutiger Bauwerke ist alarmierend. Dabei erscheint gerade ihre Architektur nicht nachhaltig genug. Mario Rinke plädiert für Tragwerke, die nicht für eine spezifische Nutzung, sondern aus dem Ort heraus erdacht sind. In Meta-Landschaften aus redundanten Strukturen könnten sich wechselnde Architekturen episodenhaft ereignen und so zur Dauerhaftigkeit der gebauten Umwelt beitragen.

Diderots Anatomie

Scherende Schichten

Nolli-Plan

Park Hill, Sheffield

SESC Pompéia

Fun Palace

Ruine als Anfang

Colloquium to Advance the Practice of Conserving Modern Heritage

1 z.B. Frei Otto, «Der Knochen, eine komplexe Konstruktion. Gedanken eines Architekten», in: Anthropologischer Anzeiger 45 (1987).

2 Denis Diderot & Jean-Baptiste d’Alembert, Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, Paris: Briasson 1751-1780.

3 Stewart Brand, How Buildings Learn. What Happens After They're Built, London, 1995.

4 Richard Sennett, Building and Dwelling. Ethics for the City, London, 2019.

5 Herman Hertzberger, «Social Space and Structuralism», in: OASE 90 (2013).

6 Bob Van Reeth, «Good architecture?», in: OASE 90 (2013).

7 Aldo Rossi, The Architecture of the City, Cambridge 1982.

In der heutigen Debatte um nachhaltiges Bauen nehmen Baustoffe eine besonders dominante Position ein. Sie sind es, aus denen das Gebäude entsteht und die daher für den Energie- oder Ressourcenverbrauch des Gebäudes im Allgemeinen stehen. Hinzu kommt die Notwendigkeit, den Energieverbrauch für den Gebäudebetrieb zu minimieren. Beide Verbrauchsaspekte sind vordergründig technische Angelegenheiten, und so haben sich IngenieurInnen in den letzten Jahren vor allem darauf konzentriert, die Material- und Energieeffizienz voranzutreiben.

Die Lebensdauer eines Gebäudes bleibt in der Nachhaltigkeitsdiskussion jedoch meist aussen vor, genauso wie die viel zu starke Bindung des Gebäudeentwurfs an seine Nutzung. So kommt es, dass es in Zeiten zunehmender Ressourcenknappheit gleichzeitig Gebäudebedarf und -leerstand gibt – häufig nahe beieinander. Das global gesehen absurde Problem der erstaunlich kurzen Lebensdauer vieler Gebäude geht zurück auf eine sehr begrenzte Nachhaltigkeit der Architektur selbst, nicht die der Baustoffe. Damit sich eine robuste Architektur in einem nachhaltigen Gebäude etablieren kann, muss sich ihr Verhältnis zur Nutzung ändern. Sie muss einen intelligenteren Beitrag vom Tragwerk verlangen können, der sich nicht nur an der Ermöglichung von architektonischen Räumen beteiligt, sondern auch an Möglichkeitsräumen anderer Architekturen. Das Zusammenspiel zwischen ArchitektInnen und IngenieurInnen wird sich erweitern, orientiert an einem komplexeren Ermitteln von Potenzialen des Gebäudes, die sie gemeinsam planen. Das Tragwerk als permanentester Gebäudebestandteil steht dabei für eine Verklammerung von Raum und Zeit, mit Nutzungszyklen und sich wandelnden Schichten unterschiedlicher Permanenz, verwurzelt am Bauplatz, jedoch losgelöst vom spezifischen Gebäude, in Form einer rohen Meta-Landschaft.

 

Gebundene Skelette

Wenn wir über Gebäude sprechen, dann sprechen wir oft vom «Dach über dem Kopf», von Habitaten und Rückzugsorten, Versorgung und Infrastrukturen. Hinter diesem Bild des Rückzugs stehen basale Bedürfnisse des Menschen und damit verschiedene funktionale Aspekte, also das Angebot von Wasser und Wärme, Licht und Luft, aber eben vor allem von Stabilität. Dieser festeste Bestandteil der baulichen Umhüllung des Menschen, die Tragstruktur, ist nicht immer ein sichtbarer oder besonderer Teil der Hülle. In Steinbauten ist er integral verankert, ebenso beim Holz im Strickbau; insbesondere aber im Skelettbau haben wir die feste Struktur klar vor Augen: Beim Holzrahmenbau, Stahl- und dem frühen Betonbau dominiert klar das tragende Gebilde aus linearen Elementen. Während die Rolle der Hülle für Repräsentation und Wetterschutz viel bedeutsamer geworden ist, hat sich an der des Skeletts nichts geändert: Es soll nur zuverlässig tragen. Mit der programmatischen Ablösung der Gebäudehülle vom Tragwerk durch die Moderne ist das Skelett als raumbildender Faktor ins Zentrum der Architekturproduktion gerückt. Der Begriff Struktur verweist auf seinen ursprünglichen engen Zusammenhang mit dem Prozess des Bauens: Das lateinische struere bedeutet «bauen», umfasst aber auch «Grundanlage, innerer Aufbau, Gliederung». Die zentrale Rolle des Skeletts wird sichtbar, wenn wir es mit dem Umbau von bestehenden Gebäuden oder Ruinen zu tun haben. Das Umbauen, das Entkernen, legt das Skelett frei, und es wird dann mit diesem unveränderlichen Teil operiert, weitergebaut. Das Freilegen lässt sich mit der Arbeit von ArchäologInnen vergleichen, das Eingreifen mit der von ChirurgInnen.

Die Tragstruktur ist oft mit Knochen verglichen worden, ja der häufige Verweis auf ein Skelett zeigt das klar an.1 Die Knochen im Inneren des Körpers stützen und verleihen Stabilität. Und sie sind das, was übrig bleibt, wenn die anderen Teile des Körpers vergangen sind. In den Knochen vereint sich, was das Lebende zusammen und aufrecht hält und gleichzeitig den Tod symbolisiert. Doch so wichtig sie sind: Für sich genommen sind Knochen nur eine unverbundene Ansammlung stabiler Einzelobjekte. Erst in der funktionalen Verbindung mit den sie umgebenden Bestandteilen bilden sie ein stabiles Gerüst. Die Knochen stützen, Muskeln und Bänder halten sie zusammen und in Position – ein komplexes räumliches Gefüge des Miteinander- und Aufeinanderwirkens.

 

Getrennte Strukturen 

In diesem Zusammenhang können die dienenden Knochen einer inneren Tragstruktur auch als Teil einer Infra-Struktur verstanden werden, also des darunterliegenden, organisierenden Systems. In dem Begriff Infrastruktur, der in der Mitte des 18. Jahrhunderts zuerst in Frankreich Verwendung findet, zeigt sich anschaulich die Verschränkung von ausgreifender Technisierung und Verwaltung. Der Staat organisierte die Struktur für Transport und wichtige Einrichtungen zentral, und erstmals bildete er sich die SpezialistInnen der dafür notwendigen Planung selbst aus. Ab 1747 bildete die Pariser École nationale des ponts et chaussées Ingenieure aus, seit 1794 auch die École polytechnique. Hier setzte eine intensive Spezialisierung ein. Diese war zum einen bedingt durch die Etablierung des modernen Staatswesens, zum anderen durch die zunehmende Rolle der Wissenschaft und Technik im Bauen. Im Zuge dieser Professionalisierung wurde die Planung von Brücken und anderen infrastrukturellen Anlagen als ein zentrales Kerngebiet des sich formierenden Ingenieurwesens aus der Baukunst herausgelöst. Das technische Bauen konnte sich zunehmend ohne eine sie umklammernde und kontextualisierende Architektur entwickeln. Die Abspaltung von Wissensfeldern und deren Vertiefung innerhalb der Wissenschaften beinhaltete auch immer wieder die Trennung von Teilaspekten, die vormals fest verbunden waren. Als die Enzyklopädisten im 18. Jahrhundert ihre Abhandlung des zeitgenössischen Wissens zusammenfügten, stellten sie auch das Bauwissen dar und legten hierbei Trennlinien zwischen Handwerksberufen und neuesten Berufsfeldern.2

 

Funktions- und Zeitschichten 

Genau wie die Knochen haben Tragstrukturen nur Sinn in ihrem Kontext und für eine Funktion. Nur wenn sie in ein Wirkgefüge eingebettet sind, erfüllen sie ihren Zweck. Das zeigt sich an wiederkehrenden Diskussionen in der Denkmalpflege um das Überleben von ungenutzten Kulturdenkmalen oder am akuten Leerstand von Bürogebäuden in vielen Innenstädten. Doch nicht nur brauchen Strukturen und ihre Gebäude eine Funktion, sie brauchen überdies eine Beweglichkeit für funktionelle Veränderungen. Stewart Brand schlussfolgerte in seiner einflussreichen Studie darüber, wie sich Gebäude im Laufe der Zeit verändern: «Alle Gebäude sind Vorhersagen. Alle Vorhersagen sind falsch.»3 Die enge funktionell-räumliche Planung hält der tatsächlich folgenden Nutzungswirklichkeit nicht stand. In ihrer unmittelbaren konstruktiven Verknüpfung sorgen Fassade, Gebäudetechnik, Tragstruktur oder Ausbauten sehr oft bei einer späteren notwendigen Anpassung für Probleme. Denn je nach der Häufigkeit von Anpassungen durch Nutzungsänderungen oder Wartungen können diese Funktionsschichten auch als verknotete Zeitschichten betrachtet werden, die jeweils eigenen Rhythmen der Existenz unterliegen. Brand hat sie als «scherende Schichten des Wandels» bezeichnet. Je mehr und fester sie miteinander verbunden sind, desto grösser das Problem: «Wegen der unterschiedlichen Veränderungsgeschwindigkeiten seiner Teile», so Brand, «reisst sich ein Gebäude immer selbst auseinander.» Idealerweise sollten Bauteile unterschiedlicher Funktionen innerhalb des Gebäudes also handhabbar bleiben, das heisst beispielsweise, dass das Tragwerk von der Gebäudetechnik getrennt bleibt. Das Tragwerk ist bei Brand natürlich nur eine der vielen Funktionsschichten. In seiner Permanenz muss es beispielsweise durch räumliche Grosszügigkeit schnelleren Wandel um sich herum ermöglichen. Das historisch bedingte Aufsplitten der Disziplinen kann hier sogar hilfreich sein. Es kann nämlich ermöglichen, das Tragwerk als einen Möglichkeitsraum für verschiedene konkrete Architekturen zu denken, zu denen es jeweils besondere Qualitäten beisteuert, deren architektonische Konstellationen es aber immer überdauert. Tragwerk und Architektur entkoppeln sich so nie räumlich und sinnlich, sondern nur zeitlich.  

Was bedeuten die Veränderungsmöglichkeiten nun konkret für das Tragwerk? Da es so viel fester ist als die weichen Schichten, muss es auch für das mitgedacht werden, was in einem späteren Kontext wahrscheinlich von ihm erwartet werden kann. Wie kann sich, was das Traggerüst trägt, verändern? Wie determiniert das Skelett diesen Prozess? Gerade beim Umgang mit einem Gebäudebestand – bei seiner Umnutzung und seinem Umbau – lässt sich sehr gut erkennen, welche grosse Bedeutung der inneren Struktur über das stabile Tragen der angelegten Räume hinaus zukommt. Das Skelett müsste in seiner Anlage und Ausgestaltung also alle naheliegenden kontextuellen Transformationen in sich selbst aufnehmen. Das heisst keinesfalls, dass Tragelemente und das Tragwerk dadurch maximal neutral und abstrakt sein müssen. Diese Abdrücke möglicher zukünftiger Änderungen und Transformationen können sogar besonders gestaltgebend sein. Ihre Form kann als lesbare Summe eine Überlagerung von Eventualitäten sein, die die Struktur jetzt oder eben später leistet oder möglicherweise nie. Diese Art struktureller Redundanz war bis zur Etablierung wissenschaftlichen Konstruierens gängige Entwurfspraxis. Die Struktur bildet in dieser Lesart das ab, was gerade geschieht (wofür es im Einsatz ist), aber auch das, was möglicherweise früher zu bewältigen war oder noch als Aufgabe kommen wird. Als zirkuläre Strategie bedeutet diese Art des Tragwerksentwurfs ein Verbleiben des Skeletts am Ort, sodass es als Rahmen jeder späteren Nutzung neu zur Verfügung steht. Allenfalls die leichteren Bauteile für Haut und innere Raumschichten würden entnommen und hinzugefügt. Der Bewegungsradius der energieintensivsten Funktionsschicht wird so möglichst minimal gehalten.

 

Veränderung als Lastfall

Diese Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen ist im Grunde auch heute Praxis des wissenschaftlichen, ja modernen Tragwerksentwurfs. Leider beschränkt sie sich meist auf die Modellierung von Lasten. Wir definieren Anforderungen, die aus Nutzungen, Wind oder Erdbebeneinwirkungen entstehen und statten das Gebäude mit einer Struktur aus, die für genau diese Anforderungen entsprechende Kapazitäten besitzt. Das betrifft die Form der Teile und des Ganzen sowie das Konstruktionsmaterial. Doch gerade in dieser rein technischen Betrachtung, die eine Konsequenz der angesprochenen isolierten disziplinären Denkweisen ist, liegt auch oft die Banalität eines Tragwerks. Indem wir also die äusseren Einwirkungen als zukünftige Möglichkeit auf unser jetziges Gebäude projizieren, akzeptieren wir, dass seine innere Anlage nurmehr schmale Möglichkeitskorridore bereithält. Die Tragwerksplanung entwirft Robustheit leider immer noch zumeist mit grosszügig dimensionierten Bauteilen oder widerstandsfähigen Baustoffen, statt sich endlich in räumliche und vor allem zeitliche Variationsstrategien für das Gebäude einzumischen. Denn der Tragwerksentwurf bezieht sich technisch in erster Linie auf den Nullpunkt der Gebäudegeschichte. Das aus einem übergeordneten architektonischen Konzept entwickelte Tragwerk ist eine direkte Übersetzung, ja oft sogar ein Diagramm seiner Anforderungen für die (erste) Gebäudenutzung.  

Gerade hierin zeigt sich der übergeordnete, ja eigentlich kreative Ansatz der Ingenieurin bzw. des Ingenieurs im Tragwerksentwurf für ein anpassbares Gebäude: Statt Nutzungen in Lasten und Dimensionen zu übersetzen, sollten räumliche Funktionsspektren die Bauteilanordnungen und -abmessungen bestimmen und mögliche spätere Durchbrüche schon strategisch in den Bauteilen anlegen. Es geht dann also auch darum, zu bestimmen, was diese Ausstattung an Kosten und Aufwand bedeutet und wo diese Eventualitäten in der Ausstattung sinnvoll sind. Wie kann eine dauerhaft bedeutsame Tragstruktur aussehen, die aus einer stabilen Architektur und Nutzung hervorgeht? Wie liesse sich eine funktionsstabile Struktur einrichten, die für möglichst viele denkbare Anforderungen des Gebäudes und wahrscheinliche Umnutzungen ohne aufwendige Anpassungen funktioniert? Und wie kann sie jenseits ihrer materiellen Beschaffenheit dauerhaft sein? Starke Strukturen sind architektonisch so wertvoll, dass sie die Identität von Räumen und Gebäuden massgeblich prägen. Das bedeutet, dass wir ein Tragwerk nicht nur als technischen Apparat verstehen dürfen, der stumm Probleme löst, sondern auch als beständigster Bedeutungsträger eines Bauwerks über Nutzungsgenerationen hinweg.

 

Gebäudeskelett als poröse Masse

Die Tragstruktur, die ein selbstverständlicher Teil der Architektur ist, umgreift alle Bereiche des Gebäudes, durchdringt es. Sie ist damit die grosse Klammer in den Bedeutungsschichten des Gebäudes, indem sie es nicht nur sprichwörtlich zusammenhält, sondern mit der ihr eigenen Permanenz durch die Episoden der Bauwerksgeschichte hindurch wirkt. In ihrer Durchdringung und homogenen Präsenz, vor allem aber in ihrer nicht zu verhandelnden physischen Existenz (neben den vielen sich wandelnden ideellen Werten), wird die Struktur selbst zum starren Körper, mit dem und in dem sich Architektur jeweils ereignet. Das Anordnen von Bauteilen und Hohlräumen gleicht dem Modellieren einer porösen Masse. Das Skelett ist in diesem Sinn die maximal aufgelöste Masse.  

Um zu beschreiben, wie ein Gebäude umgestaltet und angepasst werden kann – idealerweise von einer Vielzahl unterschiedlicher Nutzer –, muss es als durchlässige Struktur verstanden werden. Dieser Ansatz folgt Richard Sennetts Überlegungen zur Porösität der Stadt,4 worin die Durchlässigkeit von Gebäuden und ihre Rolle bei der Trennung von privatem und öffentlichem Raum innerhalb der Stadt beschrieben wird. Sennett nutzt den Nolli-Plan um Gebäudeblöcke als geschlossene oder durchlässige Körper zu beschreiben, die die Grenzen der gebauten Umwelt sichtbar machen. In diesem Sinne kann auch das Gebäude als eine durch Perforationen aufgelöste Masse gedacht werden, die je nach Konfiguration mehr oder weniger Zugang, verschiedene innenräumliche Qualitäten und deren Verbindungen ermöglicht.

Für Herman Hertzberger ist es der öffentliche Raum, der die Stadt zusammenhält und einer geringeren Dynamik unterworfen ist. Die Strassen bilden gar den dauerhaftesten Teil des Stadtgebildes.5 Wenn wir Korridore so einerseits als Trennlinien von privaten und weniger privaten Räumen in Gebäuden und andererseits selbst als dauerhafteste funktionale Zonen der Zugangsvermittlung verstehen, wird das Zusammenspiel zwischen Erschliessung und Struktur in Verbindung mit zugehörigen Nutzungsspektren zur eigentlichen Konfiguration der Gebäudemöglichkeiten.  

Wie Gebäudeblöcke, Strassenfassaden oder das Gebäudevolumen sind auch Wände und Decken eines Tragwerks nicht vollständig geschlossen, sondern weisen aus verschiedenen Gründen zahlreiche Öffnungen auf, zum Beispiel für Versorgungsschächte oder Türen. Aber mehr noch, diese strukturellen Oberflächen (vor allem aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts) haben oft eine innere Substruktur, da sie aus einem Skelett bestehen, das mit weiteren Elementen gefüllt ist. Als poröse Struktur erlaubt das Skelett, das zum Zeitpunkt seiner Errichtung vor allem aus Gründen der Materialeinsparung bevorzugt wurde, bei späteren Umbauten eine viel grössere Flexibilität, da sich Öffnungen schneller und einfacher ausführen lassen. Die strukturell hierarchisch aufgebauten Rippendecken würden so zu architektonischen Membranen, die bei Bedarf bestimmte Formen der Durchlässigkeit zulassen. Diese generische, unspezifische Auflösung ist die eigentliche Intelligenz des Bauteils, die nicht auf starre Lastvorstellungen antwortet, sondern Möglichkeitsfenster schafft, die mit der Strukturidee und dem Bauprozess verwoben sind. Diese internen Veränderungsmöglichkeiten durch potenzielle Durchdringungen – natürlich ohne die Integrität der Struktur zu beeinträchtigen – müssen in die Diskussion über die poröse Struktur einbezogen werden. Folglich kann die Durchdringung des Gebäudes auf dreierlei Art gelesen werden: 1) zur Umgebung hin durch mögliche Ein- und Ausgänge, aber auch durch offene oder geschlossene Fassaden im Allgemeinen, 2) als die Durchquerung des Gebäudes mit Korridoren zur Verbindung von Nutzungen sowie 3) als die mögliche Durchdringung von raumabschliessenden Bauteilen wie Decken oder Wänden, um Nutzungseinheiten horizontal und vertikal zu verbinden. Das Konzept der Porosität kann helfen, strukturelle Permanenzen zu identifizieren und in ein entsprechendes Material zu übersetzen. Das Tragskelett selbst muss dann gar nicht unbedingt aus zerlegbaren, zirkulären Bauteilen bestehen, denn es bleibt zwingend am Ort. Alle weicheren Schichten hingegen sollten für das Zirkulieren angelegt werden.

 

Intelligente Ruine

Aber die Struktur kann auch andersherum in einen grösseren Denkmassstab transponiert werden. In ihrer dauerhaften Präsenz löst sie sich dann in ihrer übergeordneten Bedeutung ganz selbstverständlich vom momentanen Gebäude. Sie ist als starrster Gebäudeteil eher dem Aussen, der städtischen Umgebung zugehörig, als nach innen seiner aktuellen Nutzung zugeordnet. In einer Makroperspektive wird die Tragstruktur zum Baustein für einen Quartier- und Städtebau, in dem Nutzungsspektren angelegt und Aneignungen ermöglicht werden. Diese reagieren auf jene der Nachbarn, erlauben Kontinuität zwischen Gebäuden und steuern diese durch die eigene innere Ordnung. Die Orientierung des Gebäudes und damit die Ordnung von Zugängen kann sich verändern, Nutzer und Nutzerkombinationen fluktuieren, Grundrisse verschieben sich mit Einbauten oder neuen Querverbindungen. Gebäudestrukturen können so als eine Meta-Landschaft gelesen werden, die zwar Nutzbarkeiten und Beziehungen determiniert, aber gleichzeitig jederzeit gestaltbar ist und sowohl nach innen in die Räume als auch nach aussen in das jeweilige Quartier hinein angelegt ist und wirkt. Brands Modell der scherenden Schichten folgend, verschmilzt so die fast permanente Struktur mit dem permanenten Ort; sie wird zum verlängerten Bauplatz mit allen seinen Vorbedingungen zum (Weiter-)Bauen.  

Der belgische Architekt Bob Van Reeth hat solche wandelbaren Strukturen als intelligente Ruinen umschrieben. «Ein Gebäude ist eine Möglichkeit, ist förderlich, vorzugsweise unauffällig, still, ist willens, befreit den Raum, vermittelt. Ein Gebäude als intelligente Ruine. […] Gute Gebäude verbergen den täglichen Gebrauch, sie sind stabil und widerspenstig, widerwillig verteilend und (in Anlehnung an Kant) ‹Zweckmässigkeit ohne Zweck›. Darin liegt die Qualität ihrer Dauerhaftigkeit, ihrer kulturellen Nachhaltigkeit, die ihnen Würde verleiht. Die Zweckmässigkeit verlangt nach dem richtigen Massstab, einer äussersten Präzision, die alles offenlässt, was nicht vorhersehbar ist.»6 Der Entwurf der Tragstruktur ist in diesem Sinne nicht nur die konzeptionelle Klammer von Raum, Zeit und Massstäben, sondern auch die taktile Grundordnung, die durch Episoden eines Ortes transzendiert: Nutzungen, Materialien, Menschen strömen durch sie hindurch, verdichten sich, wachsen, und finden sich neu.

Wir kennen viele erfolgreiche Umbauten, vor allem alte industrielle Gebäude, deren starke Strukturen einen viel höheren Wert tragen als ihnen von den Architekten damals zugeschrieben worden ist. Denken wir nur an Lina Bo Bardis Kulturzentrum SESC Pompéia in São Paulo. Als Cedric Price in den 1960er Jahren seine Vision einer Architektur für die Gesellschaft darlegte, zeigte er Gitterstrukturen, worin verschiedene Nutzungen angedeutet waren, Raumhüllen, grosse und kleine, die scheinbar ineinanderwuchsen.Dort nutzen die Menschen den Fun Palace für ihre Zwecke, sie eignen sich ihn an. Aber wir sollten bei wandelbaren Strukturen nicht automatisch an grosse Hallen denken, denn der notwendige Wandel betrifft jedes Gebäude. Price war der Überzeugung, dass kein Gebäude ewig sein sollte, da es immer nur Bedürfnissen dient und irgendwann ganz natürlich sein Lebensende erreicht. Heute haben wir mit den Bemühungen um nachhaltige Architekturen (und Strukturen) etwas andere Anforderungen, nämlich die Nutzungszyklen von Gebäuden und Bauteilen sinnvoll zu verlängern. Neben der dringenden Diskussion um nachhaltige Materialien und dem naheliegenden Fokus auf wiederverwendbare Bauteile müssen wir so auch dringend den aktuell viel zu schmalen Begriff der Dauerhaftigkeit von Strukturen und Funktionen überdenken. Die Tragwerksplanerin bzw. der Tragwerksplaner kann einen viel tiefgreifenderen Beitrag leisten als Strukturen schlanker und Verbindungen flexibler zu gestalten; denn er oder sie kann Strukturen differenzieren, also mit Nutzungsspektren und veränderlichen Kontexten verknüpfen und somit als gut aneignungsbare, intelligente Ruine verstehen. Unterstützt werden muss sie bzw. er von denen, die das Gebäude konzeptionell anlegen und jenen, die Trajektorien der Stadt und des Quartiers bestimmen. Verschränken wir die Vision der veränderlichen Gebäude mit Aldo Rossis7 Vorstellung von der gewachsenen Stadt und deren Bestandteilen der jeweiligen Zeit, erhalten wir skizzenhafte Strategien von lebenden Gebäuden und Städten und der Rolle der Technik. Tragstrukturen sind ein selbstverständlicher Teil von Architektur. Das eine kann ohne das andere nicht sinnvoll sein und eben auch nicht von Dauer.

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