Liebe du Arsch!

Ein Versuch über Architektur und Müll

Kann man Häuser wegwerfen, so wie man einen alten, ungeliebten Stoffleoparden wegwirft? Könnte es sein, dass Müll weniger mit Wertverlust zu tun hat als mit unserem Wissen, unserer Neugierde und unseren Vor-Urteilen? Kann man Ignoranz, Gier und Resignation überwinden und eine Architekturtheorie und -praxis wieder (er)finden, die Müll vermeidet? Hilft uns die Liebe dabei? All diese Fragen bejaht Bettina Köhler in ihrem der Idee des mäandernden Gesprächs folgenden Essay und spürt darin der Rolle der Schönheit nach, welche jahrhundertelang als Hüterin der Dauerhaftigkeit galt.

1 Benjamin Hederich, Gründliches mythologisches Lexikon, Leipzig 1770, S. 2438-2440.

2 Werner Dohmen, Baugenehmigung ist erteilt, WZ, 17.09.2019.

Die Geburt der Venus

Stoffleopard

Venus starrt seit 1967 auf einen hoch aufgetürmten Haufen Kleidung. Sie muss ihren Kopf nicht weiter drehen, um auch die dekorative Scheinöffnung mit Vorhang im Saal des Turiner Castello di Rivoli in Augenschein nehmen zu können. Beide, der Haufen anscheinend weggeworfener Kleidung und die Illusionsarchitektur einer Türöffnung mit einem dekorativ gerafften Vorhang, formen ihren Horizont, seit über 50 Jahren. Was denkt sie, die Göttin der Liebe, Fruchtbarkeit und Schönheit. Woran erinnert sie sich? Was sind ihre Befürchtungen, was ihre Hoffnungen?

 

Erinnerungen der Venus

Die mythologische Überlieferung berichtet, dass das einzig Tadelnswerte an der schönen Venus ihre klappernden Schuhe gewesen seien, weshalb man ihr geraten habe, barfuss zu gehen. In ihrem Namen sei aufgehoben, dass sie zu den Menschen komme, venio.1 Es kursieren verschiedene Erzählungen darüber, wie sie zu Menschen gekommen sei, also über ihre Eltern, ihre Zeugung und Geburt. Das schönste Ankommen ist im Bild von Sandro Botticelli aus dem Jahre 1485 festgehalten. Von Zephyr, dem sanften Wind aus Westen, angetrieben, steht sie auf einer Muschel, die den Strand von Zypern fast schon berührt. Eine Hore reicht ihr einen Mantel, bestickt mit Gänseblümchen. Venus ist noch nackt, auf eine völlig selbstverständliche Weise, als wären ihre langen Haare und die Haut und ihre leicht den Körper schützende Pose bereits ein Kleid, als wären Wasser, Wellenschaum und leichter Wind nichts, das man fürchten muss, im Gegenteil, alles trägt und befindet sich im Gleichgewicht. Zephyr hält Chloris im Arm, die Rosenblüten spricht, die Umarmung wird aus Chloris Flora werden lassen, die Göttin des Frühlings. Alles ist geordnet, alles ist aber auch Wind, Atem, Bewegung, Wachsen, Metamorphose.

Befürchtungen der Venus

Lange her, denkt Venus und betrachtet den bunten Haufen nicht mehr getragener Kleider, der vor ihr liegt. Sehr lange. Muss man nicht einfach die Realität anerkennen? Liebe, Schönheit, Gänseblümchen. Kosmische Ordnungen, Metamorphosen der Pflanzen und Tiere und Menschen. Wer möchte sie noch sehen und verstehen? Wer vermisst Flora wirklich und wer würde sich für mich interessieren, wäre ich nicht Teil einer berühmten Arte Povera Installation? Wer würde lieber von Zephyr sprechen als vom starken Westwind? Und hätte das überhaupt eine Bedeutung? Gestehen wir uns ein: 

Hier und jetzt stehen sogenannte Schrottimmobilien, liegen geköpfte Stoffleoparden vor zerstörten Einkaufswagen, diese sind angelehnt an den Altkleidercontainer, der die vielen Textilien gar nicht mehr fassen kann, die ihn umkreisen. Hier und jetzt hat die Geste des Wegwerfens Ausmasse angenommen, die man sich vor einigen Jahren noch nicht vorstellen konnte. Es werden weggeworfen: Geräte aller Art aus dem Haushalt, Bauschutt, Dämm-Material, Taschen, Koffer, Matratzen, Schuhe, Vorhänge, Porzellan, Spielzeug, sehr viele Kleider, Häuser. Ganz zu schweigen von den Plastiktüten, Zigarettenkippen, Pizzakartons, Kaffeebechern und sonstigen Verpackungen der Fast-Food-Industrie, die in Parkanlagen und Strassenrändern und an den Seitenstreifen der Auto- und Eisenbahnen ihr ewiges Grab finden. Faulheit?

Eigentlich kann man ein Haus nicht wegwerfen. Man kann auch Bauschutt nur schwer wegwerfen. Man muss ein Auto haben, man muss es laden und an einen bestimmten Ort fahren. Man muss den Bauschutt mühevoll abladen und man muss schnell wegfahren. Das Haus aber steht fest, man kann es unmöglich über Nacht wegwerfen. Und trotzdem passiert dies. In Krefeld, in Duisburg, in Detroit und an vielen anderen Orten der Welt werden Häuser weggeworfen. Das Wegwerfen beginnt bereits lange vor dem Auszug der Bewohner. Architektonischer Müll entsteht, weil bestimmte Eigenschaften des Hauses sich von Beginn an oder über einen längeren Zeitraum als schlecht erwiesen haben, beziehungsweise, weil sie — zum Beispiel aufgrund geänderter Nutzung oder einer veränderten Umgebung — zu schlechten Eigenschaften erklärt werden.

 

Venus betrachtet ein Exempel

Wenn zum Beispiel im ehemaligen Studentenwohnheim in Krefeld eine nachlässig ausgeführte Plattenbauweise zur Folge hatte, dass man – am Boden liegend – durch die grossen Fugen nach draussen schauen konnte, dann ist diese Eigenschaft im Klima Nordeuropas schlecht. Jari Banas, Künstler und Comiczeichner in Krefeld und als Student der Werkkunstschule Krefeld ein ehemaliger Bewohner des Hauses, zog kurz nach der Fertigstellung ein und hat den starken Luftzug am Boden wie beschrieben überprüft und dabei die entsprechenden Fugen entdeckt. Ebenso schlecht waren nicht isolierte Wasserleitungen, die dazu führten, dass das kalte Wasser warm und das warme entsprechend etwas gekühlt wurde. Und wenn man in einer Kultur lebt, die das private Zuhause sein mit der Idee verbindet, nichts vom Nachbarn zu hören, dann ist die Tatsache, dass man im ersten Stock das Knacken von Nüssen im fünften Stock mitverfolgen kann, sehr schlecht, selbst für ein Studentenwohnheim. Nikolaus Rüthy, Architekt und auch ein ehemaliger Bewohner des Hauses, der als Architekturstudent ebenfalls an der Werkkunstschule Krefeld eingeschrieben war, konnte sich sehr gut an die extreme Hellhörigkeit im Gebäude erinnern. Und er berichtete, dass die anfängliche Miete von 105 D-Mark, davon 50 D-Mark Miete und 55 D-Mark Nebenkosten, nach Protesten der Studierenden auf 90 D-Mark heruntergesetzt wurde, es gab also nur noch 35 Mark reine Mieteinnahmen. Rüthys Vermutung, dass solch eine niedrige Miete möglicherweise dazu beigetragen hat, dass der Unterhalt des eh schon «schwierigen» Gebäudes nicht mehr geleistet werden konnte, ist nicht ganz von der Hand zu weisen. Nach der Insolvenz des Eigentümers, ein Studentenwerk in Wuppertal, und dem Bau eines neuen Studentenwohnheimes wurde die Nutzung — wohl zu Beginn der 1980er Jahre — aufgegeben und damit begann der Niedergang des Gebäudes. Ich würde Nikolaus Rüthys Annahme zustimmen, dass dem Studentenwohnheim, im Gegensatz zum sozialen Wohnungsbau in der unmittelbaren Nachbarschaft, dauerhafter Schutz und Zuwendung, aufgrund einer immer wieder wechselnden Eigentümerschaft fehlten. Die nachbarschaftlichen Wohnhäuser wurden vom gleichen Architekturbüro errichtet, durch die Zeiten hindurch aber von ihren Eigentümern unterhalten, gepflegt und saniert. Können wir es uns heute leisten, ein Gebäude, selbst wenn es von Beginn an eklatante Mängel aufweist, verfallen zu lassen? Was bedeutet uns Reparatur? Ist es uns wirklich ernst mit der Behauptung, dass wir an die graue Energie in den Häusern denken?

Venus fragt also: Was wollen wir eigentlich wissen?

Seit 2003, also seit 19 Jahren steht das Haus leer und ist sehr langsam zur Ruine geworden. Trotzdem würde ich behaupten: es wurde weggeworfen. Kann man das so sagen? Oder ist das eine böswillige Unterstellung? Dass viele Bewohner ein Haus verlassen und es dann leer steht, hat etwas Mysteriöses. Was ist passiert? Die zitierten Gespräche mit ehemaligen Bewohnern bestätigen, dass das Haus trotz seiner in vielerlei Hinsicht eklatanten Mängel hätte überleben können. Eigentümlich, dass die in den letzten Jahren erschienenen Artikel über Sanierungspläne nie erwähnten, dass es bereits Mitte der 1980er Jahren zu einem Wohnhaus mit unterschiedlich grossen Wohnungen umgebaut wurde. Sie alle erhielten Bäder und Küchen. Prasantha Alwis, ein Textilingenieur und mein dritter Gesprächspartner hat nach dem Umbau im Haus gewohnt und ist erst ausgezogen, als er beruflicher Gründe wegen nach Berlin gehen musste. Er hat keinerlei Idee, warum alle weiteren Bewohner das Haus verliessen. Denn er hat gerne dort gelebt. Er fand das Haus im Inneren räumlich ansprechend und gut überlegt, die noch verbliebenen Elemente der ursprünglichen Zimmereinrichtungen so, dass er sie am liebsten mitgenommen hätte. Das wiederum bestätigte auch Nikolaus Rüthy, der auf die räumliche Vielfalt durch Split Levels hinwies und die sehr gut proportionierten Einbauten in den Zimmern (Vorbild Schiffskabine), sowie auf ein Detail wie Fensterrahmungen, die von Innen nach Aussen geführt wurden, um das Regenwasser effizient abzuleiten, all dies habe er architektonisch sehr geschätzt. Bei allen Mängeln und Fehlern des Hauses muss man also festhalten: es gab durchaus Qualitäten, die man in einem weiteren Umbau zum Wohngebäude hätte nutzen und weiterentwickeln können. In den mittlerweile zahlreichen Artikeln über einen der «größten Schandflecken der Stadt»,2 so die Beschreibung des Hauses in der Westdeutschen Zeitung vom 17. September 2019, wird darüber allerdings nie berichtet. Ignoranz?

3 UKW, Welle Niederrhein, 22. April 2022.

4 Werner Dohmen, «Zweifel sind angebracht», WZ, 4.01.2019.

5 Jens Voss, Wohnstätte passt beim «Horrorhochhaus», RP, 28.08.2021.

6 Michael Thompson, Rubbish Theory. The Creation and Destruction of Value, London 2017, S. 59.

7 Thompson, (2017), S. 58.

8 Vrgl. Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt am Main, 1991, S. 277.

9 Thompson, (2017), S. 49.

10 Ebd., S. 53.

11 Leon Battista Alberti, De re aedificatoria libri decem, Florenz 1485.

12 Alberti, Zehn Bücher über die Baukunst, übersetzt und herausgegeben von Max Theuer, Darmstadt 1975, Vorwort des Herausgebers.

13 Ebd., S. 293.

14 Ebd., S. 507.

15 Ebd.

16 Daidalos 22/04: Offene Meta-Landschaften

17 Hederich, (1996), S. 2483, 2440.

18 Emanuele Coccia, Metamorphosen. Das Leben hat viele Formen, eine Philosophie der Verwandlung, München 2021, S. 175.

19 Frank M. Raddatz fragt Friedrich Kittler, in: Metamorphosen der Liebe, Lettre International, Winter 2011, S. 94.

Arteworld.it

Aber die Geschichte vom «Horrorhaus»3 ist nicht zu Ende. In der WZ vom 4. Januar 2022 erfuhr man, dass die im Jahr 2019 erteilte Baugenehmigung für einen Projektmanager, der 54 Eigentumswohnungen einrichten und das Haus zeitgemäß sanieren will, noch nicht umgesetzt werden konnte, weil eine zu komplexe Sachlage vorläge, insbesondere die Rückabwicklung alter Kaufverträge und die Planung der aufwendigen Sanierung seien ein gordischer Knoten.4  

Auf dem Gelände wird Müll jeder Art gelagert. Im Gebäude übernachten Obdachlose. Auf dem Dach beweisen Jugendliche, dass sie mutig sind. Die Ratten sind da. Alles, was irgendwie brauchbar war, ist entwendet. Im letzten Winter ist jemand im Haus erfroren. Das muss abgerissen werden.5 Alexander Littgen mein vierter Gesprächspartner, Architekt, Mitglied des Gestaltungsbeirates der Stadt Krefeld und seit langem für das Haus engagiert, kommt am Ende unseres Gespräches auf einen Punkt, der nicht ein einziges Mal in der Berichterstattung über das Gebäude erwähnt wird. Wir alle haben eine Verpflichtung, das Vermögen der Stadt zu erhalten und niemand kann in Geldwerten beziffern, was es bedeutet, ein riesiges Gelände samt seiner Bebauung verfallen zu lassen. Es seien soziale und kulturelle Vermögen, zu denen wir uns — als städtische Gemeinschaft — auch als Eigentümer bekennen müssten. Stattdessen sehen wir die Rettung in Investoren, die vielleicht, aber das müsste im Einzelfall viel strikter überprüft werden, eine schnelle, hohe Rendite mehr interessiert als dauerhafte Baukultur. Ich sage: also wurde das Haus weggeworfen. Littgen berichtet, dass seiner Kenntnis nach die wenigen, letzten Bewohner im Haus natürlich viel weniger Wasser verbrauchten und so kamen die Legionellen und dann gingen auch diese letzten Bewohner. Resignation?

 

Eine Theorie für die Misere, auf die Venus seit langem schaut

Der britische Anthropologe und Soziologe Michael Thompson entwickelte 1979 eine in vielen Zügen immer noch gültige und deshalb auch 2017 erneut aufgelegte Theorie zum Müll. Er überprüfte und beobachtete, wie Dinge überhaupt zu Müll werden und sich im Zyklus von Produktion und Konsum bewegen. Müll entsteht durch Wertung. Es existieren dieser Theorie nach drei Kategorien der Wertung beziehungsweise Umwertung und Einordnung: dauerhafte Dinge, durable, Dinge im Übergang zwischen dauerhaft und wertlos, transient, — das sind die meisten Produkte — und Dinge, denen überhaupt kein Wert mehr zugemessen wird, also Müll, rubbish. Die Grenzen zwischen diesen drei Feldern sind nicht fixiert. Was aktuell Müll ist, also als wertlos betrachtet wird, kann sogar ein dauerhaftes Ding werden. «Das Interessante an diesem Kategoriensystem ist, dass die Zugehörigkeit nicht für alle Zeiten feststeht, sondern mehr oder weniger flexibel ist. Ein Mitglied der Kategorie ‚transient‘ kann – und tut dies in der Regel auch – allmählich in die Kategorie "rubbish" wechseln, und ein Mitglied der Kategorie ‚rubbish‘ kann unter bestimmten Bedingungen in die Kategorie ‚durabel‘ wechseln.»6  

Thompson gelingt es mit vielen Beispielen unter anderem aus der Immobilienwirtschaft Londons in den 1960er und 1970er Jahren die Entstehung von Müll als sozialen Prozess der Zuschreibung oder Abschreibung von Wert zu entlarven. «Es bedarf keiner großen soziologischen Erkenntnisse, um darauf hinzuweisen, dass Häuser der Kategorie 'transient‘ in der Regel von einem Teil unserer Gesellschaft bewohnt werden, der sehr auf Seriosität bedacht ist. Aus der Sicht derjenigen, die nicht in ihnen leben, sind die Bewohner dieser Häuser die langweiligen und schwerfälligen Mitglieder der unteren Mittelschicht oder der oberen Arbeiterklasse. Häuser der Kategorie ‚durable‘ scheinen der gehobenen Mittelschicht und den Überresten der Oberschicht vorbehalten zu sein. [...] Die ‚rubbish‘-Häuser werden eher von dem bewohnt, was übriggeblieben ist: vom unteren Ende der Arbeiterklasse, vielleicht kriminell, von Schichtarbeitern oder Einwanderern; und dann von denen, die am Rande der Gesellschaft leben: von Familien, die sich nicht selbst versorgen, von psychisch Kranken usw.»7 Thompson weist nach, dass der Wert der Dinge und Häuser nicht zuallererst konstruktiver, technischer und materieller Natur ist. Beziehungsweise er weist nach, dass der Wert nicht an diesen scheinbar objektiven Eigenschaften überprüft werden kann. Am ehesten, so sein überzeugendes Argument, forme sich die Position der Dinge auf der Werteskala zwischen Null und Dauerhaft durch die Verbindung der Objekte mit dem Habitus der verschiedenen sozialen Schichten, ihres Geschmacks, ihrer Überzeugungen, ihrem Einkommen, ihrem Wissen und Bildung, ihres sozialen Einflusses und ihrer modischen Attitüde.8  

In Thompsons Überlegungen fand ich eine überraschende Stütze für die Annahme, dass es eine verborgene Verbindung zwischen dem Wegwerfen des Hauses und dem Wegwerfen von Dingen des – wie man so schön sagt – täglichen Gebrauchs gibt. «[…] selbst ein so wichtiger Bestandteil der Wirtschaft wie der Wohnungsbau unterliegt genau der gleichen sozialen Dynamik wie ein Bakelit-Aschenbecher.»9 Müll entsteht aufgrund einer praktischen Lebensführung und einer weniger rationalen als vielmehr emotionalen Wahrnehmung und Bewertung dieser Lebensführung.

Hier leben nur Ratten. Das ist eine Schrottimmobilie. Das muss abgerissen werden. Diese Kleider sind wertlos. Das trägt man nicht mehr. Der Spielzeug-Leopard sieht oll aus, umso mehr, seit blöderweise sein Kopf abgerissen wurde. Weg damit.

Aber wie genau sehen diese sozialen Dynamiken aus? Was liegt ihnen zugrunde? Wie kann es dazu kommen, dass die Lebensdauer von Gebäuden in Abhängigkeit von dem ihnen zugedachten Wert schwankt und das heisst auch: je weniger Wert man ihnen zumisst, desto weniger wird in ihre Pflege und ihren Unterhalt investiert. Thompsons Vorschlag ist es, davon auszugehen, dass Häuser, so wie andere Dinge auch, obsolet werden können, weil entweder ihre technische Ausstattung veraltet ist oder aber ihr Stil nicht mehr dem aktuellen Geschmack entspricht.10 Sowohl die technische und als auch die ästhetische Obsoleszenz sind nicht einfach gegeben: Sie entstehen im besagten sozialen und politischen Prozess der Bewertung: Sie müssen interpretiert, erklärt und vermittelt werden. Politiker, Bewohner, Journalisten, Experten, Verwaltung und natürlich auch Architektinnen und Produzentinnen von Baumaterialien sowie Firmen, die technische Infrastruktur anbieten (Wasser, Heizung, Sanitär), sie alle nehmen durch ihre Äusserungen indirekt Stellung zur Frage: Was ist das (uns) eigentlich wert?  

Wenn die Dämmstoffindustrie durch sorgfältige und präzise Lobbyarbeit dafür sorgt, dass Dämmstoffe, auch wenn sie möglicherweise giftig, brennbar und vielleicht sogar in vielen Fällen überflüssig sind, flächendeckend eingesetzt werden müssen, dann hat ein Haus wie das Studentenwohnheim keine Überlebenschance. Erforschen wir die Alternativen? Ja! Nutzen wir sie auch? Und noch weiter gefragt: Hätte das Haus eine Überlebenschance mit den geplanten Eigentumswohnungen? Zweifel sind angebracht, denn die Eigenschaften des umgebenden Viertels sprechen eigentlich dagegen, dass jemand dort in Eigentumswohnungen investiert. Nicht zuletzt die Ästhetik des Hauses würde wahrscheinlich einer anderen Nutzung besser entsprechen. Warum wird also dann so geplant? Aus allem, was man jetzt weiss, könnte man den Schluss ziehen: jemand möchte — ohne eine wirkliche Analyse und Untersuchung des Hauses und der Umgebung — also letztlich ohne wirkliches Interesse an der städtischen und baulichen Realität und einer Baukultur, die den Namen verdient, vor allem eines: schnell Geld verdienen. Gier?

 

Erinnerungen der Venus  

Im gleichen Jahr 1485, in dem Sandro Botticelli das Ankommen der Venus in seinem Bild feierte, wurde in Florenz eine Abhandlung über die Architektur veröffentlicht, die ihre bis heute andauernde Strahlkraft, ihre intellektuelle und emotionale Präsenz und Schärfe – auch – einer intensiven Beschäftigung mit Müll verdankt: Leon Battista Albertis (1404-1472) De re Aedificatoria Libri Decem11. Alberti, Architekt und Humanist, beobachtete, untersuchte, vermass und interpretierte die Ruinen der römischen Antike. Erst auf dieser Grundlage eines wiedergewonnenen Wissens um Materialien und Konstruktionstechniken wurde es möglich, die eigene architektonische Kultur entscheidend zu bereichern. Alberti entwickelte eine bis in die Gegenwart herausfordernde Idee von gelingender Baukultur, nämlich die unauflösbare Verbindung von Schönheit und Nutzbarkeit, die sich in der klugen Verwendung der Baustoffe und ihrer Verbindungen materialisiert. Alberti verwandelte durch seine Schriften und seine Bauten — natürlich gemeinsam mit anderen Architekten und Schriftgelehrten, mit Handwerkern und Werkzeugmachern, die an derselben Aufgabe arbeiteten — scheinbar sinnlose Baureste in architektonisches Erbe, er verwandelte Müll in etwas Wertvolles.12  

Wenn man sich noch einmal vergegenwärtigt, dass Michael Thompson die Entstehung von Müll als Entscheidungsprozess beschreibt, wozu auch gehört, dass man sich für Pflege und Unterhalt eines Hauses entscheiden muss, damit es in der Kategorie Dauerhaft verbleibt oder in diese zurückkehrt, dann könnte man im Rückblick auf die alte, aber nichtsdestotrotz immer noch herausfordernde Architekturtheorie vielleicht folgende These wagen: Bis weit in das neunzehnte Jahrhundert hinein ist Architekturtheorie immer auch eine Anleitung zur Müllvermeidung. Das Wissen, das in einem grossen Corpus von Schriften an der jeweils aktuellen technischen und ästhetischen Praxis überprüft und weiterentwickelt wurde, stellte die Dauerhaftigkeit ins Zentrum. Die Schönheit der Erscheinung und das Ornament als Ausdruck von Zuwendung, Empathie und Aufmerksamkeit wurden mit dem Gang der Zeit und den veränderten Wünschen des Geschmacks variiert und weitergespielt, aber sie wurden als Ziele gelungener Baukultur nie aufgegeben.  

Die Schönheit galt als Hüterin der Dauerhaftigkeit. Albertis sehr abstrakte Definition von Schönheit überrascht noch heute, vor allem auch, weil sie betont, wie sehr Schönheit vom Masshalten bestimmt ist. «Dass die Schönheit eine bestimmte gesetzmässige Übereinstimmung aller Teile, was immer für einer Sache, sei, die darin bestehe, dass man weder etwas hinzufügen noch hinwegnehmen oder verändern könnte, ohne sie weniger gefällig zu machen».13 Und er hält eindringlich fest: «Wer den wahren und echten Schmuck eines Gebäudes herausfinden will, der wird tatsächlich einsehen, dass dieser nicht durch den Aufwand von Mitteln, sondern wohl hauptsächlich durch Reichtum an Geist erworben wird und drauf beruht.» Alberti widmet aus diesem Grund neben vielen Kapiteln zu den Baustoffen und ihrer Verwendung ein ganzes Kapitel den Fehlern des Bauens, die er «Fehler der Missgestalt» nennt.14 Auch hier kann man rückblickend auf die endlose Geschichte des ehemaligen Studentenwohnheimes sagen: so beginnt Müllvermeidung: «Manche der Fehler sind solche der Überlegung und des Verstandes, wie Urteil und Auswahl, andere solche der Hand, wie jene, welche durch die Arbeit des Handwerkers entstehen. Die Irrtümer der Überlegung und des Urteils sind ihrer Natur und dem Zeitpunkt zufolge, sowie an sich die schwereren und ebenso, wenn sie einmal begangen sind, viel schwerer auszubessern.»15 

Möglicherweise sind die immer wieder in den Text Albertis eingewobenen Hinweise darauf, dass Mässigung und Sparsamkeit im Bauen an allererster Stelle stehen sollten, so wie auch eine äusserst disziplinierte Planung des Bauvorganges gefordert wird, ein Hinweis darauf, dass in den frühen Stadtstaaten Italiens, wie bereits im antiken Rom, eines der grossen Probleme dieser städtischen Gemeinschaften ihr relativer Reichtum war. Und vielleicht ist genau dies — relativer Reichtum — das zentrale Problem unserer Gegenwart. Demnach soll hier die Behauptung aufgestellt werden: Dass etwas überhaupt zu Müll werden kann, ist ein luxuriöses Problem, das wir uns unter den gegebenen Bedingungen tatsächlich nicht mehr leisten können. Würde man dies anerkennen, könnte man sich vielleicht erlauben, technisch, juristisch, städtebaulich, politisch und sozial einen Bau wie das ehemalige Studentenwohnheim – aber auch viele andere aufgegebene und weggeworfene Gebäude – als Startpunkt für etwas Neues zu sehen, das ganz anders aussehen könnte. Man muss Gesetze ändern und Verantwortung übergeben. Und zum Beispiel Baugebote einfordern. In diesem Sinne könnten der ebenfalls hier erschienene Artikel von Mario Rinke über die Potentiale von Tragwerksstrukturen16 als Meta-Landschaften und dieser Essay hier zusammengelesen werden. Gemeinsam deuten sie auf die:

 

Hoffnungen der Venus

Die mythologische Überlieferung berichtet, dass das einzig Tadelnswerte an der schönen Venus ihre klappernden Schuhe gewesen seien, weshalb man ihr geraten habe, barfuss zu gehen. Die Überlieferung berichtet auch, dass sie einen buntbestickten Gürtel besass, «worinnen alle Reizungen, Liebe, Begierde, freundlicher Umgang, Schmeicheley und Liebkosung enthalten waren, wodurch sie alle Herzen gewinnen konnte.»17 Das Wissen um Liebe und Schönheit und um die Verwandtschaften von Wind, Wasser, Rosen und Muscheln und Menschen fällt nicht vom Himmel. Man muss es entdecken, erarbeiten, verbreiten, sich erinnern. Warum sollte Venus nicht in einer Tragwerksstruktur stehen und über eine verwandelte Landschaft schauen. Meta?

Auf seinem Blog schreibt Dario Mastromattei über die «Venus der Lumpen» folgendes: «Der Künstler benutzte daher arme Materialien, um sein poetisches Konzept auszudrücken. Auch die Venus-Statue war zunächst ein wertloser Fetisch. In Wirklichkeit handelte es sich um eine billige Betonkopie, die für die Dekoration von Hausgärten bestimmt war. […] Kleidung ist ein alltäglicher und 'wertloser' Gegenstand, und indem Pistoletto sie in sein Werk einbezieht, zeigt er, dass er jeden Aspekt in der Kunst darstellen will.» Wenn man nun, nach der Lektüre des Essays, bei dem Begriff ‚wertlos‘ stocken würde, dann wäre etwas passiert. Nackte Füsse sind so wenig ‚wertlos‘ wie alte, abgetragene Kleider. Obwohl die Produktion von fehlerhaften Textilien in einer Geschwindigkeit verläuft, die tatsächlich atemberaubend irrsinnig ist. Wir entscheiden über Wert und Unwert und dafür benötigen wir viel mehr Aus-Bildung unseres Wissens, unseres sprachlichen Vermögens und unserer Emotionalität oder sagen wir ruhig: unserer Liebe. Man könnte mit Leon Battista Alberti behaupten: Die Konfrontation der Venus aus Zement mit den alten Kleidern im Raum des Castello mit einer Illusionsarchitektur und einem gleichfalls ‚nur‘ gemaltem Vorhang ist ein wahrer Schmuck, weil er durch Reichtum an Geist und – ich möchte hinzusetzen – an Liebe entstanden ist.

  

Zum Schluss, erstens

Eine weitertragende Idee. Beflügelnd. So schräg sie auch klingt, sie hat viel mit Venus und ihren Befürchtungen und ihren Hoffnungen zu tun. Formuliert wurde sie vom italienischen Philosophen Emanuele Coccia:

«Die Städte müssten so etwas wie Museen für zeitgenössische Natur werden. Nicht nur Ökosysteme des Zusammenwohnens. Der Begriff «Ökosystem» hängt nach wie vor an der Vorstellung eines natürlichen, stabilen Gleichgewichts, das jeder menschliche Eingriff stört und das jede technische Neuerung ausschließt. Was hier über die Evolution als technischer Fortschritt gesagt wurde, sollte uns davon überzeugen, dass jedes Ökosystem in Wirklichkeit eine Stadt ist — also ein Raum, wo sich Innovation und Fortschritt ballen — und ein Museum zeitgenössischer Natur, also ein Raum, wo dieser Fortschritt keiner vorab festgelegten Logik folgt, sondern für alle Spezies frei verfügbar ist. […] In einem Zusammenwirken von Künstlerinnen, Wissenschaftlern, Designerinnen, Architekten, Landwirten und Viehzüchtern wird es darum gehen, multispezifische Zusammenschlüsse auf halbem Weg zwischen Stadtgartenplantage und Scheune zu bilden, in denen jedes einzelne Lebewesen Werke für die anderen und für sich selbst erschafft. Bei dieser vorbildlichen Übung der Vorstellungskraft werden, ästhetisch wie natürlich, die Städte zu praktischen Umsetzungsstätten einer kollektiven Metamorphose der Spezies.»18

 

Zum Schluss, zweitens

«Sie würden die Metamorphose und Aphrodite, respektive die Liebe, ganz eng zusammendenken. Die Liebe ist jene Triebfeder, die eigentlich den Wandel schafft. Im Naturzyklus wie in der Kultur.

Ich habe es gerade versucht.»19

Fotograf: Nils Koenning, Website, Instagram

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19.10.2022Fala

Fala meets Siza

Fala and Álvaro Siza are bound by origins but separated by age. In a personal encounter, the 89-year-old Pritzker Prize winner talks about that which is still reflected in Fala's own work today. lesen
22/06
Fala meets Siza
Artikel 22/05
22.9.2022Anna Beeke

Trailer Treasures

Within mobile home parks, Anna Beeke encounters a clear desire for individualized place. In her photographs she shows how prefabricated units are the same, but different. lesen
22/05
Trailer Treasures
Artikel 22/04
20.8.2022Mario Rinke

Offene Meta-Landschaften

Mario Rinke plädiert für Tragwerke, die nicht für eine Nutzung, sondern aus dem Ort heraus erdacht werden. In diesen Meta-Landschaften können sich Architekturen episodenhaft ereignen. lesen
22/04
Offene Meta-Landschaften
Artikel 22/03
1.7.2022Virginia de Diego
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Reductio ad absurdum

Through deliberate destruction a former bunker can be preserved. Its relevance is created out ouf its absurdity. lesen
22/03
Reductio ad absurdum
Artikel 22/02
1.7.2022Jerome BeckerMatthias Moroder

The balance of chaos and structure

In conversation with Jerome Becker and Matthias Moroder, Marc Leschelier emphasises his aversion to functionalism and stresses the importance of architecture as a form of expression. lesen
22/02
Chaos and Structure
Artikel 22/01
1.7.2022Gerrit Confurius
Teatro di Marcello, Rom, Giovanni Battista Piranesi (1720-1778), ca. 1757

Permanenz als Prinzip

Gerrit Confurius erinnert sich an das Ende der gedruckten Ausgabe von Daidalos und empfiehlt das Prinzip der Permanenz als Strategie auch für die zukünftigen Aufgaben der Architektur. lesen
22/01
Permanenz als Prinzip