Platte postmodern

Das Kolonnadenviertel Leipzig

Unüberhörbare Kritik an der Eintönigkeit des sozialistischen Städtebaus führte zum Paradigmenwechsel in der industriellen Plattenbauweise der DDR. Dank modifizierter Formenpalette sollte auf lokale Charakteristika reagiert werden können. Ende der 1980er Jahre zeigte die  Rekonstruktion des Leipziger Kolonnadenviertels, dass die so erzielten Ergebnisse der als reaktionär geltenden Postmoderne jenseits des Eisernen Vorhangs nicht unähnlich waren.

Handzeichnung

Apels Garten 1840

Entwurf Bauakademie 1970

Kann man in Hoyerswerda küssen?

1 Bruno Flierl, Hermann Henselmann, «Architekt und Architektur in der DDR», in: Hermann Henselmann. Gedanken, Ideen, Bauten, Projekte, Berlin 1978, S. 26–52.

2 Vgl. Alexander Mitscherlich, Die Unwirtlichkeit unserer Städte, Frankfurt (Main) 1965; Heinrich Klotz, Das Pathos des Funktionalismus, in: Werk – archithese, 64. Jg. (1977), H. 3, S. 3-4.

3 z.B. Brigitte Reimann, «Bemerkungen zu einer neuen Stadt», in: Lausitzer Rundschau v. 17.8.1963.

4 Brigitte Reimann, Franziska Linkerhand, 20. Aufl., Berlin 2020, S. 144.

5 Juliane Richter und Katja Weise, DDR Architektur in der Leipziger Innenstadt, Weimar 2015.

6 Thomas Hoscislawski, Leipzig im Aufbau. Grundzüge der städtebaulichen Entwicklung 1945-1990, Leipzig 2023, S. 385.

7 Jana Richter, «Komplexe Rekonstruktion in der Leipziger Westvorstadt», in: Philipp Meuser, Neue Städte, Großsiedlungen und Ersatzneubauten, Berlin 2022, S. 272.

8 Richter 2015, S. 121 ff.

9 Hoscislawski 2023, S. 293.

Das erste Porträt einer Serie berufstätiger Frauen, die die Grafikerin und Malerin Lea Grundig 1969 im Auftrag des Demokratischen Frauenbunds Deutschlands schuf, galt der Stadtarchitektin von Neubrandenburg, Iris Dullin-Grund (*1933). Während eine im April 1969 publizierte Handzeichnung die Architektin vor Lageplänen und Grundrissen von bis zu 16 Geschossen hohen Bauten dezidiert als Stadtplanerin zeigt, dokumentiert die schliesslich verbreitete Lithographie Iris Dullin-Grund vor drei rot geflammten, mittelalterlichen Backsteinbauten der Stadt und vor spektakulären Neubauten, die man cum grano salis als postmodern bezeichnen darf, auch wenn es – oder gerade weil es - diesen Begriff damals noch nicht gab. Die modernen Bauten auf dem Bild waren keine Phantasie: Im Vordergrund sind schlangenförmig gebogene, in der Höhe gestaffelte Plattenbauten, wie sie im Jahr zuvor erstmals am Berliner Leninplatz nach Plänen von Hermann Henselmann realisiert worden sind, zu sehen sowie stumpfwinklige Zeilen. Aus ihnen hatte Dullin-Grund das Wohngebiet Oststadt in Neubrandenburg gebildet, zu dem auch ein über einem sphärischen Dreieck errichtetes Bürohochhaus sowie eine im Grundriss sternenförmige Gaststätte gehören, die rechts unten im Bild zu erkennen sind. Mit dem Haus für Kultur und Bildung, dessen Turm das Bild links abschliesst, hatte Iris Dullin-Grund ihre Karriere in Neubrandenburg begonnen. Den Wettbewerb dafür hatte sie 1959 gewonnen. 1965 war das Hochhaus eingeweiht worden.

Iris Dullin-Grund hatte vor ihrer Zeit in Neubrandenburg kurz bei Mart Stam, vor allem aber an der Bauakademie bei Hermann Henselmann gearbeitet, jenem Architekten, dessen Bauten und Projekte der Doyen der DDR-Architekturtheorie, Bruno Flierl, in den 1970er Jahren dann als Bildzeichenarchitektur bezeichnen sollte. Er verwendete damit einen Begriff, der in der internationalen Architekturdiskussion seit Kevin Lynchs The image of the City (1960) in der Luft lag und mit Charles Jencks The language of postmoderne architecture (1977) als postmoderne architecture parlante sinnfällig wurde.1

Küssen in Hoyerswerda?

Die von Lea Grundig dargestellten Entwürfe für Neubrandenburg reagierten bereits auf eine Kritik am gleichförmigen, industrialisierten Städtebau, die seit Mitte der 1960er Jahre auch in der DDR immer lauter wurde. Es war eine ostdeutsche Entsprechung zu Alexander Mitscherlichs Polemik gegen die Unwirtlichkeit unserer Städte, die aus dem resultierte, was Heinrich Klotz später als Bauwirtschaftsfunktionalismus charakterisieren sollte.2 Allerdings gibt es einen grundlegenden Unterschied: Städtebaukritik war in der DDR nicht zuvörderst Gesellschaftskritik bzw. Kritik am System, auch wenn die sozialistische Funktionärsbürokratie das mitunter nur so verstehen konnte. Das zeigt das Beispiel der Schriftstellerin Brigitte Reimanns (1933-1973) sehr deutlich. Sie war dem im Frühjahr 1959 ausgerufenen, sogenannten Bitterfelder Weg gefolgt und in den ersten, gerade entstandenen Wohnkomplex von Hoyerswerda Neustadt gezogen, um nah am Puls der Arbeiterschaft des gerade im Entstehen begriffenen Braunkohlekombinats Schwarze Pumpe zu schreiben. Zunächst begeistert von der Idee der sozialistischen Stadt bekannte Reimann dann aber doch nach wenigen Jahren, dass ihr Intimität und atmosphärische Dichte, ja Urbanität fehlen würden: «Jede Stadt, die natürlich gewachsen ist, hat ihren eigenen Duft, ihre eigene Farbe, und ihre Architektur besitzt einen unverwechselbaren Zauber.»3 Die Lausitzer Rundschau kleidete das in die griffige Überschrift, ob man in Hoyerswerda-Neustadt küssen könne. Reimann hatte damit eine öffentliche Debatte angestossen, die für Architekten wie Hermann Henselmann von Bedeutung war und die Freundschaft zwischen dem Ost-Berliner Chefarchitekten und der Schriftstellerin begründete. Sie ist die Grundlage des unvollendet gebliebenen, furiosen (und mit seinen pluralistischen Stilmitteln vielleicht sogar postmodernen) Romans Franziska Linkerhand, der 1974 posthum erschien und bis heute zahlreiche Neuauflagen erlebte. Darin übte Reimann eine Fundamentalkritik an den lebensfremden, antiurbanen Ausprägungen eines sozialistischen Städtebaus, wie die Autorin sie in Hoyerswerda erlebt hatte. Zugleich entwarf Reimann aber auch das Idealbild einer emanzipierten, jungen Architektin, für die Architektur und Städtebau auch Gesellschaftsbau ist und die sich nicht mit den Brosamen der Ministerialbürokratie begnügen wollte, sondern in der festen Überzeugung, einen besseren Sozialismus aufzubauen, ihre Einwände erhob. Unschwer ist in Franziska Linkerhand Iris Dullin-Grund zu erkennen, deren Schaffen Reimann seit ihrem Umzug nach Neubrandenburg im Jahr 1968 aus nächster Nähe beobachten konnte.

Auch wenn die Kritik an einer gleichförmigen Stadt, die kein Heimatgefühl, keinen Zusammenhalt, keine Identifikation ermöglichte, bei Reimann, Henselmann, Dullin-Grund gleichermassen deutlich war und Dullin-Grund sich etwa um die Restaurierung der mittelalterlichen Bauten in Neubrandenburg verdient machte, blieben sie letztlich dem Gedanken der modernen, sozialistischen Zentrumsplanung verpflichtet. So wehrt sich Linkerhand, als sie entgegen ihren Erwartungen nicht mit der Planung der Neubauviertel betraut wird, sondern stattdessen «Pläne für die Altstadt-Sanierung ausarbeiten» soll, und damit zur «ödesten, blödesten Arbeit [verurteilt war], die sich denken läßt: Gewirtschafte mit Lichtpausen, Buntstiften und Tabellen, eine Fleißaufgabe für Studenten im dritten Semester.»4

Identitätsstiftender Wert der Altstadt

In der Folge wurde in der Stadtplanung in der gesamten DDR dennoch zunehmend der identifikationsstiftende Wert der Altstadt anerkannt. Diesen Prozess, der von einer die historische Stadtstruktur zunächst weitgehend negierenden Stadtplanung der 1960er und frühen 1970er Jahre ausging, um schliesslich in die sogenannte komplexe Rekonstruktion innerstädtischer Altbauquartiere in den 1980er Jahren zu münden, zeigt das Leipziger Kolonnadenviertel exemplarisch. 

Die Vorgeschichte der Inneren Westvorstadt Leipzigs, deren zentrale Achse die im frühen 19. Jahrhundert angelegte, heutige Kolonnadenstrasse ist, reicht ins Jahr 1700 zurück. Damals erwarb der Handelsherr Andreas Dietrich Apel einen Garten vor dem Thomaspförtchen. Durch Ankäufe wurde dieser entlang fächerförmig ausgebaut und schliesslich im 19. Jh. zu einem zentrumsnahen Wohn- und Arbeiterviertel geformt. Im Zweiten Weltkrieg hatten drei Bombenangriffe grosse Lücken in die gründerzeitliche Bebauung der Inneren Westvorstadt gerissen und über 50% der historischen Bausubstanz zerstört. Schon bald nach dem Krieg wurde, wie Juliane Richter herausgearbeitet hat, die Innere Westvorstadt als das einzige direkt an das Stadtzentrum angrenzende Gebiet ausgewählt, um umfangreiche Umgestaltungen und städtebauliche Experimente durchzuführen.5

Entscheidend war hierfür das Entwurfskolloquium «Innere Westvorstadt Leipzig» im Herbst 1966, dessen Ergebnisse Grundlage für eine im Juli 1967 abgeschlossene Koordinierungsvereinbarung waren, um eine Forschungsgruppe zu bilden. Ziel war es, Erfahrungen bei der Modernisierung von Altbaugebieten zu sammeln und industrielle Verfahren zu entwickeln, die in Altbaugebieten angewendet werden können. Aus dieser Forschung ging ein Entwurf hervor, der von Hermann Henselmann und seinen Mitarbeitern in der Experimentalwerkstatt des Instituts für Städtebau und Architektur der Deutschen Bauakademie in Zusammenarbeit mit dem Büro des Chefarchitekten der Stadt Leipzig, Horst Siegel, bis 1970 erarbeitet wurde. Er zeigt genau jene Vielfalt an Formen, wie sie Lea Grundig auch an Dullin-Grunds (ja ebenfalls aus der Schule Henselmanns hervorgegangenen) Neubrandenburger Planungen hervorgehoben hatte und die in Leipzig der Diversität der Funktionen aus Erholungs-, Wohn-, Kultur- und Arbeitsbereiche entsprach: schlangenförmige Plattenbauten als Grosswohnkomplexe, die in Leipzig konvexe, platzartige Erweiterungen des Strassenraums ermöglichten, komplexe Grundrissformen, die einzelne Gebäude hervorhoben und zugleich den Übergang zur Altstadt modellierten, verschieden hohe Baukörper und Höhendominaten – das alles freilich noch unter Missachtung der historischen Strassenführung und der noch vorhandenen älteren Bebauung.

1975 veröffentlichte das Büro des Chefarchitekten der Stadt Leipzig eine weitere Studie zur Umgestaltung der Westvorstadt und dem Bau von 1650 Wohnungen. Hierbei wurde zwar – anders als bei Henselmanns Vorschlag – die historische Strassenführung beachtet. Dennoch hätte die Realisierung den Abriss der Altbauten und einen eintönigen Städtebau aus Typenwohnbauten bedeutet, wie sie nicht viel anders in den Plattenbausiedlungen an den Stadträndern zum Einsatz kamen. Die Wohnbauten sollten von der Strasse zurückgesetzt werden, was die industrielle Fertigung zwar erleichtert, stadträumlich aber zweifellos einen Verlust bedeutet hätte.6

Trendwende zur komplexen Rekonstruktion

Mitte der 1970er Jahre setzte jedoch ein Paradigmenwechsel ein. Er fällt in die Ägide Erich Honeckers, der 1971 Walter Ulbricht als Staatsratsvorsitzenden der DDR abgelöst hatte. 1973 wurde ein Wohnungsbauprogramm verabschiedet, dass den Bau von drei Millionen Wohnungen bis 1990 vorsah und unter dem Motto «Einheit von Neubau, Modernisierung und Erhalt» nun auch explizit die Sanierung von Altbauten und Lückenschliessungen im innerstädtischen Bereich adressierte. Flankiert wurde dies durch das erste Denkmalpflegegesetz der DDR, das «die konzeptionelle Einbeziehung historischer Bausubstanz in die Stadtplanung forderte».7 Allerdings hatten die verstaatlichten Baubetriebe nicht mehr die nötigen Mittel für die Werterhaltung der Altbaugebiete, so dass viele von ihnen verfielen.

Auf diese Situation reagierte der neue Leipziger Generalbebauungsplan von 1976. Er sah vor, die innerstädtischen Baulücken mit massstabsgerechten Neubauten zu schliessen, wobei Neubau aus wirtschaftlichen Gründen Plattenbau bedeutete.8 Altbauten sollten modernisiert und der historische Charakter erhalten werden.9 Massgebliche Überlegungen der Studie von 1975 wurden für die Innere Westvorstadt in den Generalbebauungsplan von 1976 übernommen.

10 Vgl. Richter 2015.

11 Vgl. Hoscislawski 2023, S. 386.

12 Richter 2015, S. 131 ff.

Diese Trendwende zur «komplexen Rekonstruktion» zeigt sich in den 1982 vom Politbüro beschlossenen Städtebaugrundsätzen: Zukünftige Planungen sollten in die Innenstädte verlagert werden. Aspekte der Denkmalpflege, soziale Fragen und die Effektivitätssteigerung standen nun gleichermassen im Fokus. Nachdem erste Bauvorhaben für innerstädtische Bereiche in den 1970er Jahren jedoch nur zu unbefriedigenden Lösungen geführt hatten, weil die Bausubstanz aus ökonomischen Gründen doch nicht umfassend erhalten werden konnte und die Ersatzneubauten aus den Platten der WBS 70 (Wohnungsbauserie 70) zu uniform waren, sollte eine Plattenbauweise entwickelt werden, mit der vielfältig und differenziert auf die Umgebung reagiert werden konnte.E Bei diesen modifizierten Formen des Plattenbautyps WBS 70 waren die Erdgeschosse meist höher. Fassadenversprünge, variierende Geschosszahlen, senkrechte Wandeinschnitte und mansardartige Dächer sorgten für eine abwechslungsreichere Gestaltung. Einen wichtigen Beitrag leistete in diesem Zusammenhang der DDR-weite Ideenwettbewerb «Variable Gebäudelösungen in Grossplattenbauweise für das innerstädtische Bauen» von 1982/83, dessen Beiträge zeigten, wie innerstädtische Neubauten auf die historische Substanz reagieren, Läden und Gaststätten in die normierten Platten integriert und lokale Charakteristika übernommen werden könnten.

Auch in der Inneren Westvorstadt Leipzigs sollten sich nun die weiteren Planungen auf die Vorgeschichte des Gebietes beziehen und zugleich überprüft werden, wie effizient ein solches innerstädtisches Bauen sein kann. Zum übergeordneten Thema für alle Baumassnahmen wurde die Wiederbelebung der kulturellen Traditionen der barocken Gartenvorstadt. Auch das historische, dreistrahlige Strassennetz des 19. Jahrhunderts wurde erhalten. Das »Experimentalvorhaben Leipzig/Kolonnadenstrasse« hatte begonnen.10

 

Kolonnadenviertel als Experimentalstandort

Das Kolonnadenviertel befindet sich im sogenannten Teilgebiet I der Inneren Westvorstadt und umfasste mehrere Baufelder, für die von 1983 bis 1985 die Bebauungskonzeptionen erstellt wurden. Zwischen 1983 und 1990 wurden die Planungen realisiert. Das Baukombinat Leipzig konzipierte hierfür in Zusammenarbeit mit dem Institut für Wohnungs- und Gesellschaftsbau der Bauakademie und der Ingenieurhochschule Cottbus einen modifizierten Typ der WBS 70, der schliesslich auch in anderen Städten der DDR zum Einsatz kam, etwa beim Wendischen Viertel in Cottbus oder an der Frankfurter Allee in Berlin.11

Für das erste Baufeld ganz im Süden waren zunächst fünf neungeschossige Punkthochhäuser und ein Kindergarten in lockerer Streuung vorgesehen. Mit der im Süden geplanten Parkanlage sollten landschaftsgärtnerische Prinzipien des von Peter Joseph Lenné im 19. Jahrhundert angelegten Johannaparks aufgenommen werden. Spuren dieser konzeptionellen Ideen finden sich heute im sogenannten Plastikpark, der 1987 mit einer Freilichtausstellung eröffnet wurde. Die Punkthochhäuser wurden schliesslich nicht realisiert, sondern lediglich eine Kindereinrichtung, eine Schule und eine Sporthalle von 1984 bis 1986 errichtet.12

Die städtebaulichen Schwerpunkte der Inneren Westvorstadt liegen denn auch in den sich weiter nördlich befindenden Bereichen, dem Dorotheenplatz im Zentrum der Inneren Westvorstadt, von dem die Kolonnadenstrasse nach Westen geht und dem Nikischplatz nördlich davon.

Am Dorotheenplatz als Mittelpunkt des Kolonnadenviertels sollte die Idee der Leipziger Gartenvorstadt verwirklicht werden. Städtebauliche Merkmale der Barockzeit wurden in der neuen Konzeption aufgegriffen: das fächerförmige Strassensystem und das ein Viertel eines Oktogons umfassende Rondell des Apelschen, später Reichelschen Gartens mit den Skulpturen des Bildhauers Balthasar Permoser. Von hier aus lässt sich das Kolonnadenviertel über den auf das 18. Jahrhundert zurückgehenden Dreistrahl der Strassenzüge erschliessen. Der Dorotheenplatz ist also der städtebauliche Auftakt des Viertels. Der Übergang vom Dorotheenplatz zur Kolonnadenstrasse wird durch zwei stumpf abgewinkelte Plattenbauten akzentuiert, die den Platz im Westen einfassen. Auf der gegenüberliegenden Seite wird die Freifläche durch zwei weitere Plattenbauten der 1980er Jahre begrenzt, die die von dem Platz strahlenförmig abgehenden Strassenfluchten aufnehmen. In der Mitte befindet sich eine Grünfläche, deren Durchwegung den spitz zulaufenden Dreistrahl und damit das Ende des Viertels erkennen lässt. Entlang der westlichen Begrenzung wurden Kugelahorne gepflanzt und auf der Ostseite zwei Skulpturen aus Cottaer Sandstein aufgestellt. Es handelt sich um Kopien der beiden, 1705/06 geschaffenen Arbeiten des Bildhauers Balthasar Permoser: Juno und Jupiter flankieren den barockisierend repräsentativen Eingang ins Kolonnadenviertel.

Kranstandort

13 Richter 2015, S. 167 ff.

14 Claude Schnaidt, «Einige Feststellungen zum 'Postmodernismus' und seine sozialökonomischen Ursachen In Frankreich; Christian Schädlich, «Der Postmodernismus - eine alternative Architektur?», in: Architektur der DDR, 31. Jg. (1982), H. 6, S. 361-362 / S. 340-346.

15 Hermann Wirth, «Historische Werte im gegenwärtigen Architekturschaffen», in: Architektur der DDR, 31. Jg. (1982), H. 6, S. 347–351.

16 Josef Paul Kleihues (Hg.), Prager Platz: zerstörter Federschmuck, aggressive Leere, geschichtliche Collage 6, Stuttgart 1989.

Die Fassaden der sechsgeschossigen Plattenbauten haben im Erdgeschoss eine Ladenzone, darüber sind die Regelgeschosse durch rot-braune Fliesenflächen hervorgehoben. Diese werden an den Ecksituationen und in den Dachgeschossen durch gräuliche Waschbetonflächen gerahmt. In den Ecken der Westbauten befindet sich jeweils eine hervortretende Erkerzone, die von einem Blechdach gekrönt wird. Das Dachgeschoss aller Platzbauten wird durch ein grosses Betongesims von den Regelgeschossen abgetrennt. Die Erdgeschosszone setzt sich mit einer erhöhten Terrassierung vom Strassen- und Platzniveau ab. Die vor den Gebäuden liegenden Terrassen werden an den Ecken jeweils über eine Treppe betreten und bieten zugleich einen Zugang zu den Eingangsportalen der Gebäude. Mit einer Neuinterpretation von Kolonnaden sind die erhöhten Flächen überdacht. Die Stahlbetonstrukturen der westlichen Kolonnaden fungieren zugleich als Auflager für die Balkonzone im ersten Obergeschoss. Alle Stützen wurden aus Waschbeton gefertigt. Die oberen Stahlbetonabschlüsse wurden hingegen weiss gestrichen. Den Abschluss der Überdachungen bilden abgeschrägte Drahtglasflächen, welche mit einer Metallkonstruktion an den Betonteilen montiert sind und diese Geschosse rhythmisieren. Im vorderen Bereich der Terrassen befinden sich zwischen den Pfeilern Waschbeton-Pflanzkübel. Sie wurden als Sichtschutz und gestalterische Elemente der Terrassenbereiche konzipiert.

 

Postmoderne aus Plattenbau

Als Experimentalstandort für die Frage, wie industrielles Bauen in historischen Quartieren funktionieren kann, war die Kolonnadenstrasse besonders geeignet, weil sie breit genug für das Kranbett war, aber schmal genug, um mit einem Kran beidseitig der Strasse Plattenbauten montieren zu können. Städtebaulich fungiert die von Osten nach Westen verlaufende Kolonnadenstrasse als Flanierstrasse des Viertels. Von 1983 bis 1985 wurden hier acht Altbauten saniert und 52 Wohnungen mit den Erdgeschosszonen modernisiert. Architektinnen und Architekten arbeiteten mit einem Team aus Kunst und Kulturwissenschaft an einer Konzeption der «Komplexen Stadtgestaltung», die zum Ziel hatte, den Strassen- und Erdgeschossbereich als Fussgängerzone neu aufzuwerten.13

In der Kolonnadenstrasse stechen drei unterschiedliche Plattenbautypen hervor. Der erste Bautyp wurde in vier durch den Krieg entstandenen Baulücken platziert. Diese Sechsgeschosser weisen alle eine ähnliche Gestaltung auf: Das leicht zurückgesetzte Dachgeschoss ist durch dunkelgraue Waschbetonoberflächen charakterisiert. Die Fassadenfläche der Regelgeschosse sind wiederum durch rot-braune Fliesen bestimmt und nehmen damit Bezug sowohl auf die Neubauten am Dorotheenplatz als auch auf die historistischen Klinkerfassaden benachbarter Altbauten. Oberhalb der Hauseingänge werden die Fenster durch ornamentierte Betonplatten-Elemente hervorgehoben, die Erdgeschosszone wird durch geriffelte Betonelemente betont. Grosse Schaufenster prägen die Ladenfront. Die Eingänge (als Hochparterre mit Stufen begehbar) sind durch eine im Inneren des Gebäudes liegende Vorzone zurückgesetzt. Neben die DDR-Plattenbauten reihen sich vier- bis fünfgeschossige Altbauten. Reiche Bauplastiken zieren die Fassaden (Groteskmasken, profilierte Gesimse, etc.). Die Ladenzone in den Erdgeschossen ist hier meist durch verputztes Bossenmauerwerk akzentuiert. Rötliches Klinkermauerwerk wurde hingegen bei den Regelgeschossen eingesetzt. Dreieckige und rechteckige Erker ragen in den Strassenraum. Dunkelgraue Schindeln prägen das äussere Erscheinungsbild der geneigten Dachgeschosse, die von Gauben bekrönt werden.

Weiter westlich kreuzt die Kolonnadenstrasse die Max-Beckmann-Strasse. Es ergibt sich eine neue städtebauliche Situation. Auf der östlichen Seite der Kreuzung wird der Strassenraum durch zwei abgewinkelte Eckbauten zu einem kleinen Platz erweitert. Beim nördlichen Bau handelt es sich um einen verputzten Altbau, auf der südlichen Seite befindet sich sein Pendant aus den 1980er Jahren. Westlich gegenüber sind zwei siebengeschossige Plattenbauten der WBS 70 so positioniert, dass ihre Schmalseiten von der Max-Beckmann-Strasse zurücktreten. Sie definieren das Ende der Kolonnadenstrasse zum Westplatz hin.

Die seit den 1960er Jahren formulierte Kritik an der Eintönigkeit von Plattenbausiedlungen führte seit Mitte der 1970er Jahre zu einer Aufwertung der Innenstädte und ihrer historischen Substanz, die von der Politik unter Honecker mitgetragen wurde und vor allem in den 1980er Jahre ihre bauliche Ausprägung erfuhr.

Die internationalen Bemühungen um eine behutsame Stadterneuerung, wie wir sie etwa von der IBA Alt in Westberlin 1987 kennen, hatten darin ihre Entsprechung auch in der DDR, auch wenn der partizipatorische Anteil, der gerade in Berlin-Kreuzberg eine programmatische Rolle spielte, in der DDR nicht vorhanden war, ja gar nicht sein konnte, da der Staat nach der offiziellen Doktrin ohnehin als von allen getragener Arbeiter- und Bauernstaat von vornherein partizipatorisch war.

Auch wenn der Schweizer Architekt und Architekturtheoretiker Claude Schnaidt in einer 1982 veröffentlichten Ausgabe der Zeitschrift Architektur der DDR betonte, dass die architektonische Postmoderne nicht mit den Werten und sozialistischen Anliegen der DDR im Einklang stehe, sondern eine reaktionäre Baupolitik fördere, da sie aus einer durch den westlichen Kapitalismus hervorgerufenen Krisensituation entstanden sei, und der an der Weimar Hochschule lehrende Christian Schädlich die Ablehnung der Postmoderne sekundierte,14 ist der Bezug zur Vergangenheit und zu historischen Werten in Städtebau, Denkmalpflege und Architektur relevant – Aspekte, die im Westen mit der Postmoderne in Verbindung gebracht wurden.

In dem im gleichen Zeitschriftenheft publizierten Artikel «Historische Werte im gegenwärtigen Architekturschaffen» von Hermann Wirth heisst es denn auch, dass geschichtliche Werte durch zwei Tendenzen in den Planungen der DDR zum Ausdruck kämen: In der Ergänzung bereits bestehender Gebiete und auch Neubaugebiete mittels «Wiederverwendung gesicherter […] Originalstücke» oder aber durch Neubaukonzeptionen mit einem «deutlichen formalen historischen Bezug».15

Just das hätte auch über den Prager Platz in Westberlin gesagt werden können, ein dem Kolonnadenviertel vergleichbares Musterprojekt «kritischer Rekonstruktion» der IBA Neu, bei dem mit Gottfried Böhm, Rob Krier und Carlo Aymonino drei bedeutende Architekten der Postmoderne die kriegszerstörte Platzrandbebauung auf dem Fussabdruck der historischen Stadt typologisch nachempfinden.16 Komplexe Rekonstruktion der DDR und Kritische Rekonstruktion im Westen gehen hier als Ausprägungen der Postmoderne Hand in Hand.

Neben dem Leipziger Stadtarchiv und Stadtplanungsamt gilt ein besonderer Dank Juliane Richter, deren Arbeit und Bildarchiv eine Grundlage für diesen Beitrag bildet. Der innerstädtische Plattenbau im Leipziger Kolonnadenviertel wurde in ihrer Veröffentlichung «DDR-Architektur in der Leipziger Innenstadt» aufgearbeitet. Diese Publikation erschien 2015 im Bauhaus-Universitätsverlag und umfasst auch eine Arbeit von Katja Weise zu weiteren DDR-Bauten in der Leipziger Innenstadt.

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In conversation with Jerome Becker and Matthias Moroder, Marc Leschelier emphasises his aversion to functionalism and stresses the importance of architecture as a form of expression. lesen
22/02
Chaos and Structure
Artikel 22/01
1.7.2022Gerrit Confurius
Teatro di Marcello, Rom, Giovanni Battista Piranesi (1720-1778), ca. 1757

Permanenz als Prinzip

Gerrit Confurius erinnert sich an das Ende der gedruckten Ausgabe von Daidalos und empfiehlt das Prinzip der Permanenz als Strategie auch für die zukünftigen Aufgaben der Architektur. lesen
22/01
Permanenz als Prinzip