Das Denkmal des Dorian Gray


Was andere Bauten als Patina ziert, gilt bei jenen der weissen Moderne als unschöner Makel des Alterns. Als Bild ihrer ursprünglichen Reinheit sollen die Ikonen ewig leben. Daniela Spiegel plädiert für einen denkmalpflegerischen Ansatz, der die Bauten entmythisiert, und diskutiert, inwieweit auch den Ikonen ein Alterswert zusteht, denn ewiges Leben muss nicht zwingend ewige Jugend bedeuten.

1 zit. nach Ulrich Conrads (Hg.): Programme und Manifeste zur Architektur des 20. Jahrhunderts, Bauwelt Fundamente 1, Berlin/München 1971, S. 31.

2 Eugéne Viollet-le-Duc, Dictionnaire raisonné de l’architecture française du XIe au XVIe siècle, Bd. 8, Paris 1866, S. 14.

3 Georg Dehio, «Denkmalschutz und Denkmalpflege im neunzehnten Jahrhundert», in: Marion Wohlleben, Georg Dehio. Alois Riegl. Konservieren, nicht restaurieren, Braunschweig 1988, S. 89, 100.

4 Charta von Venedig 1964, Präambel sowie Art. 11.

5 Eugéne Viollet-le-Duc 1886, S. 34.

6 John Ruskin: The seven lamps of Architecture, 1849, S. 194.

7 Ebd., S. 196.

8 Ebd., S. 196-197.

Le Corbusiers Villa Savoye, Muches Haus am Horn, Gropius‘ Meisterhäuser und das Bauhausgebäude, die Stuttgarter Weissenhofsiedlung, all dies sind gefeierte Ikonen der klassischen, weissen Moderne, erklärte und gepflegte Denkmale. Erschaffen vor 100 Jahren, präsentieren sie sich heute mit einer strahlenden Eleganz, als wäre die Zeit stehen geblieben, als wäre nichts geschehen. Erstaunlich wenn man bedenkt, mit welchen Schwierigkeiten diese Epoche jahrzehntelang zu kämpfen hatte: Diskreditierung und Verunstaltung während des Nationalsozialismus, Kriegsschäden, notdürftige Reparaturen, pragmatische Umbauten oder eben einfach nur jahrzehntelange Vernachlässigung. Entsprechend stolz wird berichtet, wenn nach umfangreicher Sanierung die Inkunabeln der Moderne wie «Phönix aus der Asche» steigen, «in neuem Glanz» erstrahlen. Ihre komplexe Geschichte sieht man den Bauten (zumindest in Europa) nicht mehr an. Alle wirken jung, frisch und zeitlos schön.

Der Eindruck der Zeitlosigkeit war in der Moderne ein intendierter Bestandteil des Entwurfs. Dahinter stand der Wunsch nach Abstraktion und Reduktion auf das Wesentliche sowie nach der Herauslösung aus traditionalen Entwicklungen. Ergebnis war die von allem, als überflüssig empfundenen Baudekor befreite ‹reine› Form. Die in diesem Geiste realisierten Objekte mit ihren Detaillösungen waren mehr bildhafte Manifeste als hochentwickelte Lösungen eines konstruktiven Problems. Dauerhaftigkeit war dementsprechend kein erklärtes Ziel. Im Gegenteil hatte die progressive Avantgarde, namentlich Antonio Sant’Elia (1888-1916) in seinem 1914 publizierten Manifest der futuristischen Architektur erklärt, dass Vergänglichkeit und Flüchtigkeit fundamentale Merkmale der futuristischen Architektur seien: «Die Häuser werden nicht so lange währen wie wir, jede Generation wird sich ihre eigene Stadt bauen müssen.»1

Nichtsdestotrotz haben etliche Bauten der modernen Bewegung die Zeit überdauert und sind heute Denkmale, die mit viel Aufwand gepflegt und instandgesetzt werden, um sie nicht dem Verfall preiszugeben. Aus denkmalpflegerischer Sicht ist der formulierte Anspruch Sant’Elias auf ein natürliches Verfallsdatum (oder gar eine Verpflichtung der Nachfolgegeneration, die Vergangenheiten zu zerstören) tatsächlich kein Kriterium. Als deklarierte Denkmale gehört das bauliche Erbe nämlich nicht mehr den Urheberinnen und Urhebern, sondern der Allgemeinheit. Die Denkmalpflege hat also die Verpflichtung, auch diese Bauten für die nachkommenden Generationen zu erhalten. So oder ähnlich steht es als oberste Prämisse in jedem Denkmalgesetz.  

 

Dokument oder Monument?

Statt der Frage nach dem ‹ob› stellt sich die Frage nach dem ‹wie› des Erhaltens, Pflegens und Restaurierens. Die Erkenntnis, dass ein Baudenkmal mehr ist als sein ursprünglicher architektonischer Kern und dass auch spätere Zeitschichten erhaltenswerte Bestandteile sein können, entstand im späten 19. Jahrhundert in Reaktion auf die damals übliche Praxis der purifizierenden, rekonstruierenden Restaurierung, wie sie von Eugéne Viollet-le-Duc (1814-79) betrieben wurde. Während er als oberste Prämisse setzte, das ursprüngliche Kunstwerk wieder sichtbar zu machen,2 vertraten andere die Auffassung, dass auch das, was dem Gebäude im Laufe der Zeit widerfahren ist, von Bedeutung sei. So verwies der Vordenker der deutschen Denkmaltheorie Georg Dehio (1850-1932) auf die «Doppelnatur» des Denkmals als zugleich künstlerisches Monument wie auch historisches Dokument. Seine daraus abgeleitete Parole «Konservieren, nicht restaurieren», die im heutigen Sprachgebrauch eher als «Konservieren, nicht rekonstruieren» gelesen werden muss, hat sich weitgehend durchgesetzt.3 Denn eigentlich herrscht zumindest in der Theorie durchaus Einigkeit, dass Denkmale den kommenden Generationen «im ganzen Reichtum ihrer Authentizität» weiterzugeben sind, «der Anteil jeder Zeit am Entstehen eines Baudenkmales […] respektiert werden [muss]» und Stilreinheit «keinesfalls eines der im Zuge der Restaurierung anzustrebenden Ziele» sein sollte, wie es die Charta von Venedig seit 1964 postuliert. Wie kann es also sein, dass hiervon abgerückt wird, sobald es um die Moderne geht? 4

Tatsächlich ist es nicht so leicht, die historischen und ästhetischen Denkmalwerte gleichzeitig wie auch gleichwertig herauszustellen. Denn oft genug überlagern die einen Werte die anderen. Von den Ikonen der Moderne hat kaum eine die Zeit unbeschadet überdauert. Der prekäre Zustand, in den sie über die Jahre gelangten, ist nicht nur Vernachlässigungen geschuldet, sondern auch der baulichen Originalsubstanz, die meist alles andere als perfekt war. Etliche Bauten wiesen gravierende Probleme auf, was zum Teil der experimentellen Herangehensweise in Bezug auf Konstruktion und Materialien geschuldet war. Darüber hinaus waren manche Bauschäden aber auch eine Folge dessen, dass zugunsten der reinen Form auch auf funktionale Elemente verzichtet worden war.

Auch auf solche Fragen muss bei der Restaurierung eine Antwort gefunden werden: Ist die Originalsubstanz trotz ihrer Schadhaftigkeit von Bedeutung, ist nicht vielleicht auch die Imperfektion der Architektur in gewisser Hinsicht ein authentischer Teil des Denkmals und hat somit einen dokumentarischen Wert? Gerade bei der vermeintlich perfekten Moderne? Was wiegt schwerer, Dokument oder Monument? Wieviel Substanz braucht das Bild?

Für Viollet-le-Duc wäre die Antwort eindeutig gewesen: für ihn manifestierte sich die Bedeutung des Denkmals in der ihm innewohnenden Idee, und nicht in der Substanz. Deshalb sei es legitim, auch Verbesserungen und nutzungsbedingte Anpassungen vorzunehmen. Seine Empfehlung lautete, «sich in die Lage des Erbauers zu versetzen und sich zu fragen, was er getan hätte, wenn er in unsere Welt käme und die Bauaufgabe lösen müsste.»5 Und siehe da, mit genau diesem Anspruch verliefen die ersten Restaurierungen moderner Bauten in den 1970er und 1980er Jahren. Neben der Wiederherstellung des bauzeitlichen Erscheinungsbilds war die technisch-konstruktive Verbesserung der Gebäude Teil der denkmalpflegerischen Zielstellung. Der originalen Substanz wurde tatsächlich kein besonderer Wert beigemessen. Dahinter stand die Auffassung, dass die Bauten in Hinblick auf eine serielle Fertigung und Standardisierung von Bauteilen entworfen worden seien. Die Krux war allerdings, dass eben jene gefeierten Ikonen das eben oft noch nicht waren - als Experimental- und Musterbauten waren sie meist traditioneller und handwerklicher gefertigt als es der Anschein erweckte. Somit gingen diese ersten Sanierungen mit grossen Verlusten an Originalsubstanz einher. Erst mit zunehmendem zeitlichem Abstand und ausdifferenzierter Erforschung der Epoche konnte die Substanz sich peu à peu ihr Bleiberecht erkämpfen.

Freilich gibt es auch hierzu eine Gegenposition. Bereits 1849 vertrat der englische Doyen der Denkmaltheorie John Ruskin (1819-1900) vehement die These, die rekonstruktive Restaurierungspraxis (wie sie im 19. Jahrhundert üblich war) führe zur «umfassendsten Zerstörung, die ein Bauwerk erleiden kann».6 Zuviel Substanz ginge verloren, in der doch der eigentliche ‹Spirit› des Bauwerks bewahrt sei. Sie gelte es durch andauernde sorgfältige Pflege möglichst lange zu erhalten, aber nur bis zu einem gewissen Grad. Substanzielle Bauschäden oder verlorene Bauteile sollten nicht operativ durch Rekonstruktion behoben werden: «Bindet es mit Eisenklammern zusammen, wo es sich löst; stützt es mit Balken, wo es sich neigt; kümmert euch nicht um die Unansehnlichkeit solcher Stützen! Lieber eine Krücke als eine verlorene Gliedmaße!»7

In dieser Forderung offenbart sich Ruskins Grundeinstellung zum Baudenkmal, welches er als einen lebenden Organismus begreift, der genauso sterblich ist wie der Mensch: «Sein letzter Tag muss einmal kommen, aber lasst ihn eindeutig und klar sein und ohne die Verfälschung durch unredlichen Ersatz – lasst ihm die letzte Ehre der unverfälschten Erinnerung.»8 Eine Vorstellung, die schwer auszuhalten ist: Sollen etwa nicht nur wir Menschen, sondern auch der Parthenon oder die Villa Savoye kein ewiges Leben haben? Sollte die Kunst denn nicht ewig leben?

 

Der Wunsch nach ewiger Jugend

Der irrationale Wunsch des Menschen nach ewigem Leben war zu Ruskins und Viollet-le-Ducs Lebzeiten auch Thema in der Literatur. In Oscar Wildes Roman The Picture of Dorian Gray besitzt der Protagonist ein Portrait, das an seiner statt altert. Während er äusserlich makellos jung und schön bleibt, verkommt sein Abbild mit der Zeit zu einer hässlichen Fratze, die alle negativen Charakterzüge spiegelt, die der Mensch Dorian Gray sich über die Zeit durch sein rücksichtsloses Verhalten (bis hin zum Mord) aneignet. Wilde, der bei Ruskin in Oxford studiert hatte, diskutiert und hinterfragt mit der Geschichte die Moralität von Sinnlichkeit, Hedonismus und Dekadenz und kritisiert zugleich den Ästhetizismus des Fin de Siècle. In seinem aus eindringlichen Aphorismen kompilierten Vorwort fordert er für die Kunst eine Sphäre ausserhalb der Moral. Darin klingt die Debatte des Symbolismus über L’art pour l’art an, die vielleicht auch bei den Bauten der klassischen Moderne eine Rolle spielt. Als Ikonen sind diese mehr Symbole als lebendige, und daher auch alternde Bestandteile des Lebens. Die klassische Moderne als ein von der Welt abgeschlossener, unveränderlicher Raum der Kunst?

Auf dieses Gefangensein in der Zeitlosigkeit verwies der spanische Künstler Andrés Jacque mit seiner Arbeit PHANTOM: Mies as Rendered Society. Diese behandelt den 1986 rekonstruierten Barcelona-Pavillon von Mies van der Rohe. Die Rekonstruktion des Gebäudes folgte damals akribisch genau den Originalplänen, bis auf eine wesentliche Zutat: die Einfügung eines Kellergeschosses, welches zukünftig als Backstage Unterhalt und Wartung des Gebäudes erleichtern sollte. Im Keller wurde alles Profane versteckt, das die Illusion des ‹Frozen in Time› - Effekts des zeitlosen Kunstwerks stören könnte. Genau dies wurde von Jacque thematisiert – der Keller ist eine Art Dorian Gray Porträt, das die Alterung des Gebäudes versteckt: in ihm verborgen sind gebrochene Travertinplatten, verblichene Samtvorhänge, ehemalige Veranstaltungsrelikte und etliche Putzmittel – die nun in Jacques Kunstprojekt ans Licht gezerrt wurden.

9 zit. nach: Alain de Botton, Glück und Architektur, Frankfurt am Main 2008, S. 65.

In Wahrheit funktioniert die Strategie, einen von der Welt abgeschlossenen Raum zu schaffen, nicht, weder in der baulichen Sanierungspraxis noch in Oscar Wildes Roman, denn das Scheitern der Protagonisten resultiert gerade daraus, dass sie Kunst und Leben zu häufig verwechseln. In der Figur des Dorian Gray steckt auch ein Narziss-Vergleich: Ähnlich wie Narziss entfremdet sich auch Wildes Protagonist so weit vom realen Leben, dass er schliesslich sterben muss. Seine Schönheit bedeutet letztendlich seinen Tod. Trifft das auch auf die Ikonen der Moderne zu? Bedeuten ewige Jugend und Schönheit ihren Tod oder sind sie nicht ihr eigentlicher Wert?

 

Patina oder Makel?

Das Neu-Sein, vielmehr das Neu-Ausschauen der weissen Moderne ist in der Tat ein wesentlicher Bestandteil ihres Kunstwerts. Es ist Teil ihrer künstlerischen DNA und steckt schon im Begriff: Die Moderne ist per definitionem das Gegenteil von alt, «modern» heisst hier auch: immer neu, vermeintlich zeitlos. Aber Bauten sind nicht mehr zeitlos, wenn sie Spuren der Zeit zeigen. Während wir bei Bauten aus anderen Epochen oder Gattungen Alterungsspuren durchaus als Teil der Geschichte akzeptieren, wie beim Industriebau, wo Patina quasi zum guten Ton gehört, werden sie bei der Moderne nur als störend wahrgenommen. Teil ihrer Modernität war es, mit tradierten Bauformen und -elementen zu brechen, leider auch solchen, die eine nicht unwesentliche Schutzfunktion haben wie Spritzschutzsockel, Fensterbänke, Fallrohre und Dachüberstände. Insofern altern sie schneller und unschöner. Eine Putz- oder Betonfassade kann kaum so würdevoll altern wie eine Natursteinfassade. Was dort Patina ist, wird hier zum Makel, zum Schmutz, zu hässlichen Zeichen des Alterns.

Der einzige Ort, wo bei Bauten der Moderne Patina geduldet wird, ist der Innenraum. Hier wird die Patina durchaus ästhetisiert. Denn anders als Aussenputz altern Bodenbeläge aus Linoleum oder Triolin, Handläufe aus Holz und Türklinken aus Messing nahezu mit Erhabenheit, die hier – in Ehrfurcht vor der Leistung – sogar geboten scheint. In den Innenräumen dürfen die Bauten Historizität ausstrahlen. Dort lässt sich der Aura nachspüren und imaginieren, wie die Räume vor 100 Jahren von den Meistern beschritten wurden. Aussen hingegen erhalten die weissen Ikonen der Moderne hierzulande mit der Sanierung meist ein umfassendes «Facelift». Das lange Vernachlässigte und Verkannte erstrahlt nun endlich wieder «in neuem Glanz» – kann wieder Ikone sein. Genau hiermit – der Schändung der Ikone – operierte der Brüsseler Künstler Xavier Delory, als er Le Corbusiers Villa Savoye als eine dem Vandalismus anheimgefallene Ruine imaginierte. Der Trompe l’Oeill Effekt aus Photoshop funktioniert verblüffend – man empfindet es tatsächlich als Sacrilege, so der Titel des Werks.

Delorys Arbeit ist mehr als eine Provokation, sie ist auch Kritik an der Vergötterung und Musealisierung moderner Architektur. Le Corbusiers Villa, gebaut als bestmöglicher architektonischer Ausdruck von Funktionalität, ist heute nur noch eine Ikone, ein Kunstobjekt – ohne Funktion, l’art pour l’art. In diesem Falle vielleicht auch besser so, denn die Funktionalität des Baus war zumindest aus der Perspektive der Eigentümerfamilie nie überzeugend, wie die Beschwerdebriefe aus dem Jahr 1936 beweisen, in denen die frustrierte Madame Savoye sich bei ihrem Architekten über die mangelhafte Bausubstanz beklagte: «Es regnet in den Flur, es regnet auf die Treppe und die Garagenwand ist pitschnass. Schlimmer ist, dass es immer noch in mein Bad regnet. Bei schlechtem Wetter wird es geradezu überschwemmt, da das Wasser selbst durch das Oberlicht hereinströmt. Sie werden sich endlich damit abfinden müssen, dass dieses Haus einfach unbewohnbar ist.» Sich der von ihm geschaffenen Ikone bewusst, ignorierte Corbusier jedoch die konstatierten Mängel und empfahl der Bauherrin stattdessen, «im unteren Flur ein Gästebuch aus[zu]legen. […] Sie werden sehen, wie rasch Sie manch bedeutsames Autogramm gesammelt haben.»9

Die nicht erfolgte Behebung der Baufehler durch den Architekten führte dazu, dass die Villa nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, während dessen sie erst von deutschen und anschliessend von US-amerikanischen Truppen unter anderem als Heuspeicher genutzt wurde, von der Familie Savoye nicht wieder in Betrieb genommen wurde. Bis zu seiner Restaurierung (1985-97) hatte die schlechte Bauausführung in Kombination mit der jahrelangen Vernachlässigung den Bau tatsächlich in fast jenen Zustand gebracht, wie er von Delory imaginiert wurde.

Advertisements for Architecture

10 Alois Riegl, Der moderne Denkmalkultus, Wien/Leipzig 1903.

11 Marion Wohlleben, «Riegl und die Moderne. Gedanken zum Verhältnis von Alterswert und Neuem Bauen», in: Unsere Kunstdenkmäler 41 (1990), S.18-21, hier S. 19.

12 Ebd.

13 Vgl. Caitlin DeSilvey, Curated Decay. Heritage beyond Saving, Minneapolis 2017; Katrine Majlund Jensen/Luise Rellensmann, «Experiential Preservation as Critical Heritage Practice. On Le Corbusier’s Villa Savoye in Ruins», in: Habeck, Ruinen und vergessene Orte. Materialität im Verfall – Nachnutzungen – Umdeutungen, Bielefeld 2023.

14 Ingrid Scheurmann, Konturen und Konjunkturen der Denkmalpflege, Köln/Weimar/Wien 2018.

Mitte der 1960er Jahre suchte der Schweizer Architekt Bernhard Tschumi die Villa auf und beschrieb sie als verwahrlos, stinkend und bedeckt mit Graffiti. Allerdings bewertete er diesen Zustand nicht negativ, im Gegenteil befand er, das Gebäude sei «niemals bewegender gewesen» als in dieser Verletzlichkeit und Vergänglichkeit. Deshalb nahm er die verfallene Ikone genau in diesem Zustand in seine polemischen Advertisements for Architecture auf und bewarb sie mit dem Slogan: «Das Architektonischste an diesem Gebäude ist der Zustand des Verfalls, in dem es sich befindet». Und in der Bildunterschrift konstatierte er: «Architektur überlebt nur dort, wo sie die Form, die die Gesellschaft von ihr erwartet, negiert. Wo sie sich selbst negiert, indem sie die Grenzen überschreitet, die ihr die Geschichte gesetzt hat.» 

 

Neuheits- oder Alterswert?

Zwar nicht wörtlich und vielleicht auch nicht bewusst, argumentierte Tschumi ganz im Sinne Alois Riegls (1858-1905), eines Zeitgenossen Georg Dehios und weiteren Säulenheiligen der Denkmaltheorie. In seinem 1903 veröffentlichten Werk Der moderne Denkmalkultus differenzierte er die verschiedenen Bedeutungsebenen, die einem Denkmal innewohnen können. Darin benannte er auch den ‹Alterswert›, welchen er wie den historischen Wert zu den Erinnerungswerten zählte.10 Er ist gewissermassen der Gegenspieler des Kunst- bzw. Neuheitswertes, welcher die schöpferische Leistung als solche adressiert, und entsteht durch die Auflösungsarbeit der Natur – Verwitterung und Patina.

Als Wert spürbar wird er in der Ehrfurcht, die der Mensch angesichts alter, eventuell auch schon verfallener Bauten empfindet. In ihrer Anschauung werde er sich dem Werden und Vergehen und auch der eigenen Vergänglichkeit bewusst; eine Art Memento Mori, das sich hier einstellt. Dessen eingedenk, werden heutzutage bei der Restaurierung historischer Bauten daher auch Spuren der Alterung in der Regel belassen und als eigene Denkmalschicht auch konserviert.

Nicht so bei den Ikonen der Moderne – bei ihnen spielt der von Riegl definierte und von Tschumi bei der ruinösen Villa Savoye konstatierte Alterswert nicht nur keine Rolle, er wird ihnen sogar abgesprochen, auch von ausgewiesenen Denkmaltheoretikerinnen: Marion Wohlleben (1946-2001), die ansonsten stets der konservierenden, substanzerhaltenden Denkmalpflege verpflichtet war, argumentierte 1990 in einem Schweizer Themenheft zum Umgang mit der Moderne, dass bei dieser, damals noch neuen Denkmalgattung, ein «Abrücken von der Erhaltungsmaxime, nach der die Spuren der Geschichte und des Alters zum Denkmal gehören wie seine materiellen und formalen Eigenschaften», gerechtfertigt sei. Als Grund benannte sie die «absolute Besonderheit, mit der sich die Architektur des Neuen Bauens gegen ihre Vorläufer abgrenzte.»11 Riegls Alterswert würde für die Bauten der Zwanziger Jahre nicht greifen, da er «der Essenz dieser Architektur» widerspreche. Diese sei nämlich im Allgemeinen «auf geometrische Strenge, auf scharfe Trennung der Flächen, auf Klarheit, Glätte – kurz: auf Präzision angelegt». Ein nicht besonders stichhaltiges Argument, da es auf viele andere Epochen, allen voran die klassische Antike, genauso zutrifft, ebenso wie ihre Feststellung, dass «Patina als Dimension dieser Architektur nicht eingeplant» gewesen sei. Marion Wohllebens Argumentation, die den Neuheitswert gegen den Alterswert ins Feld führt, ist historisch einzuordnen – gehört sie doch zu jener Generation der Denkmalpflege, die als Pionierinnen und Pioniere für den Erhalt und Rehabilitierung der klassischen Moderne gekämpft hat, nachdem diese in den Jahren des Nationalsozialismus diskreditiert und in den ersten Nachkriegsjahrzehnten arg vernachlässigt worden war. Bei ihr klingt der Wunsch nach Wiedergutmachung zwischen den Zeilen durch, wenn sie schreibt «ein Überlassen der Zwanziger-Jahre-Bauten an die Anforderungen des Rieglschen Alterswerts« käme einer «doppelten Veruntreuung dieses singulären Erbes» gleich.12

 

Entmythisierung der Moderne

Heutzutage wird Wohllebens Haltung durchaus kritisch gesehen, in Hinblick sowohl auf die Heroisierung der Epoche, als auch auf die rekonstruktive Restaurierungspraxis. Vonseiten der Critical Heritage Studies gibt es Ansätze, den Verfallsprozess bei Gebäuden jüngerer Epochen, vor allem aus der Industriekultur, zu akzeptieren und sogar zu kuratieren, um daraus im Sinne Riegls, aber auch der Ökologie neue Zugänge zu diesem Erbe zu erschliessen. Ein solch experimenteller Ansatz ist als Denkmodell überaus interessant, weil er die tradierte Konservierungspraxis aufbricht.13 Für einzelne Bauten könnte es in der Tat ein interessanter, künstlerischer Lösungsweg im Umgang sein. Als genereller Weg scheint er jedoch wenig praktikabel.

Es zeigt sich also, dass nicht nur die Architektur sich stetig weiterentwickelt, sondern auch die Denkmalpflege, die so eng mit ihr verbunden ist. Es gehört zu den Paradoxien dieses Felds, dass die Entscheidungen über den Umgang mit dem Erbe von Generation zu Generation immer wieder infrage gestellt und kritisiert werden. Denkmalwerte und Wertzuschreibungen sind ebenso wie die daraus resultierenden denkmalpflegerischen Haltungen und Zielstellungen nicht statisch. Und genau wie die Architektur ist die Denkmalpflege Konjunkturen unterworfen und folgt in bestimmten Sparten eigenen Ansätzen.14

Der genauere Blick auf den Umgang mit der klassischen Moderne hat gezeigt, dass die denkmalpflegerische Praxis in dieser Sparte seit jeher (und immer noch) näher an Viollet-le-Ducs Bildfokussierung orientiert ist, als mancher sich das eingestehen möchte. Dennoch hat mit zunehmender Historisierung der Epoche auch Ruskins Plädoyer für den Wert der Substanz einen festen Platz eingenommen. Aufgrund der grossen Verluste ist der Zeugniswert der baulichen Relikte gestiegen, deren Substanz in Teilen bereits Seltenheitswert geniesst, weshalb die akribische Konservierung originaler Putze, Gläser und Farbfassungen heute so selbstverständlich betrieben wird, wie bei einem mittelalterlichen Gebäude.

Was nach wie vor keine Option ist – weder im Umgang mit der Moderne noch mit anderen Epochen – ist Ruskins Betonung der natürlichen Sterblichkeit von Gebäuden (die ja auch von Sant’Elia für die futuristische Architektur eingefordert wurde), da sie dem denkmalpflegerischen Auftrag widerspricht, die von der Gesellschaft als ‹wertvoll› erkannten Gebäude der Nachwelt zu erhalten. Somit verströmen alle Versuche, die Bauten durch stetige Restaurierung in ihrem Zustand der Jugendlichkeit zu konservieren, einen leichten Balsamierungsgeruch. Letztlich ist diese Mumifizierung aber ein normaler Vorgang des Klassisch-Werdens von Kunstobjekten, die sich zu einem Emblem des Kanons verfestigen. Damit verhilft sie den Objekten zur Unsterblichkeit, im besten und schlimmsten Sinne des Wortes.

Was den unangenehmen Nebenwirkungen der Unsterblichkeit die Schärfe nehmen kann, ist eine weitere Entwicklung der denkmalpflegerischen Haltung, die neben dem Substanzerhalt feststellbar ist: die mit der Historisierung einhergehende Entmythisierung der Epoche. Je mehr wir erforschen, desto mehr interessante Zwischentöne werden hörbar, die das perfekte Bild bisweilen auch stören mögen. Dies führt dazu, dass die heldenhafte Auferstehung als Phönix aus der Asche nicht mehr das einzig denkbare Narrativ ist, das an und mit den Baudenkmalen erzählt werden kann. Immer mehr interessieren sich für die gesamte Geschichte – die Moderne ist nicht mehr nur Sehnsuchtsbild, sondern vielschichtiges Erbe. Es bleibt, sich von Fall zu Fall darüber zu verständigen, wie lebendig dieses Erbe sein soll.

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